Vratislavia, Brassel oder Wrocław?

Nach sechs Jahren wieder einmal in Breslau, es war jetzt das vierte Mal insgesamt. Erneut hat sich vieles verändert – die Stadt wirkt noch jünger, lebendiger und vitaler. Und das Wiedersehen mit den schon bekannten Stätten wurde diesmal ergänzt durch Orte, die wir nur dank K.’s Leidenschaft für Lost Places aufsuchten. Alle Wege haben wir zu Fuß gemacht; der schönste Spaziergang führte von der Universität zur Jahrhunderthalle, immer an der Oder entlang. Wir dokumentieren hier einen älteren Text von 2016, ergänzt durch einige Bemerkungen zu den aktuellen Eindrücken

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Ein Europäer aus Łόdż

Quelle: Wikipedia

„Ich lag im Krankenzimmer, und die Schwestern brachten mir Bücher, von Lermontow zum Beispiel. Ein Jahr lang lernte ich an Lermontow und Puschkin die kyrillische Schrift und die russische Sprache. Die Wachmänner baten mich anschließend, für sie Liebesbriefe zu verfassen, weil ich wie Puschkin schrieb.“         Karl Dedecius

Gerade  in Zeiten eines zunehmenden  Autoritarismus in Europa muss an einen großen Literaturvermittler, Brückenbauer, Büchermacher, Kulturfunktionär und gebildeten literarischen Übersetzer erinnert werden:  Karl  Dedecius. Dass 2016 die Nachricht seines Todes  im 95. Lebensjahr selbst bei Kulturjournalisten nicht gebührend kommentiert wurde, will allerdings fast stimmig erscheinen.  Denn der unermüdlich Arbeitende wurzelte in Verhältnissen, in denen ständige Selbstvermarktung und mediale Präsenz nicht oberstes Gebot waren. 

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Von der Textilmetropole zur Filmstadt

Denkmal für Izrael Poznański, Karl Wilhelm Scheibler und Ludwik Grohmann

In  einer Fabrik, Ende des 19.Jahrhunderts: Der Angestellte Horn will einer mittellosen Witwe helfen, die ihren Mann bei einem Betriebsunfall verloren hat.  Der Direktor kanzelt ihn deswegen ab. Horn entgegnet,  er sei keine Maschine, sondern ein Mensch. „Zuhause, aber in der Fabrik ist Ihre Menschlichkeit nicht erforderlich.“ Die Szene stammt aus dem Film „Gelobtes Land“ von Andrzej Wajda, dem 2016 verstorbenen polnischen Regisseur. Schauplatz des Geschehens ist die florierende Industriestadt Łódź, ein Ort, an dem, wie der Film eindrucksvoll zeigt, Polen, Deutsche und Juden zusammenleben, ein Ort für Glückssucher und Spekulanten, aber auch ein Ort schroffer Klassengegensätze zwischen wohlhabenden Industriellen und ausgebeuteten Arbeitern.

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Fern von Gebildeten…

…am Ende des Reichs: Oberschlesien stimmt ab. 

Die kalendarische Wiederkehr eines historischen Ereignisses lenkt die Aufmerksamkeit auf Vergangenes, das sich in voneinander abweichenden Geschichtserzählungen erhalten hat. Als Erinnerungsanlass ist das oberschlesische Plebiszit vom 20. März 1921 ein gutes Beispiel für konkurrierende, sich fortentwickelnde Deutungen. Die Überschrift bedient sich auszugsweise eines Epigramms von J.W. von Goethe, das er der Knappschaft von Tarnowitz im September 1804 verehrte und das den Landstrich, in dem er sich befand, freundlich, aber mit leichter Befremdung, vielleicht Herablassung charakterisiert: Oberschlesien.

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„Denkst du des Schlosses noch auf stiller Höh ?“

Einige Reisenotizen zu Oberschlesien (Teil II)

Die Annäherung

Wer westlich sozialisiert ist und über sechzig Lenze zählt, der wird noch den guten alten erdfarben gebundenen Diercke-Weltatlas in Erinnerung haben, in dem sich  auf den Seiten 6 bis 8 eine geographische Karte des nördlichen Deutschlands in den Grenzen von 1937 fand. Die südöstlichste Auskragung mit den Städten Beuthen, Hindenburg, Gleiwitz, etwas nördlich noch Oppeln, das war das nach der Teilung 1922 bei Deutschland verbliebene Oberschlesien, Kattowitz gehörte in der Zwischenkriegszeit zu Polen.

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„Wo der rote Himmel glüht im Feuerschein…“ 

Einige Reisenotizen zu Oberschlesien (Teil I)

Was haben Städte wie Bottrop und Wittenberge gemeinsam? Oder Chemnitz und Frankfurt/Main? Sie werben um Touristen, indem sie auf Fördertürme, ein Stellwerk, eine ehemalige Strumpfwirkerei oder das IG-Farben-Haus aufmerksam machen. Dieser neue Ansatz geht von der Frage aus, ob nicht Zeugnisse des Industriezeitalters, die die Lebenswelt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts widerspiegeln, dasselbe Interesse wecken könnten wie Schlösser und Prachtbauten früherer Zeiten. Schon in den 60er Jahren erkannte das Künstlerehepaar Hilla und Bernd Becher die Aussagekraft und den ästhetischen Reiz von Wassertürmen, Gasbehältern und Fabrikanlagen und begann diese fotografisch zu dokumentieren. Während der Stahl- und Kohlekrise der 70er und 80er Jahre fotografierten sie z.B. Anlagen im Ruhrgebiet, die bald darauf für immer verschwunden waren. Inzwischen macht das Schlagwort von den „Kathedralen der Arbeit“ die Runde und dient vielerorts den Städten zur Selbstvermarktung. Sanierung und Nachnutzung heißt dann meist die Perspektive für die nutzlos gewordenen Kolosse. 

Die Suche nach den eigenen familiären Wurzeln hat die Autoren dieses Reiseberichts nach Oberschlesien geführt, das bekanntlich nach 1945 an Polen fiel. Dort hatten die Industriekomplexe die Zeiten bis 1989 zwar nahezu unbeschadet überdauert, doch inzwischen prägt auch in Bytom (Beuthen) und Katowice (Kattowitz) der Abschied von Kohleförderung und Montanindustrie das Stadtbild.

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Sag‘ an, mein Kind, so rau der Wind, …

… Berlin, Stettin, wieviele Städte sind? So fragte man vor langer Zeit wohl den Nachwuchs, um dessen Geographie-Kenntnisse zu testen. Die richtige Antwort lautete: vier, denn Sagan und Sorau sind Städte in der Niederlausitz, auf halber Strecke zwischen Cottbus und Breslau. Heute heißen sie Żagań und Żary, gehören zur Woiwodschaft Lebus und haben nach wie vor ihre Reize.

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Stadtspaziergänge

Frédéric Chopin, Carl von Holtei, J.W. Goethe und Alfred Kerr kehrten hier ein: Der Schweidnitzer Keller im Historischen Rathaus lädt seit 1273 nicht nur illustre Gäste ein.

Literarische Reiseführer wenden sich vornehmlich an Bildungsreisende, grundsätzlich aber auch an all jene, die auratische Orte besuchen wollen, wo Kulturgeschichte vermeintlich oder wirklich erfahrbar wird. Das Motiv, ein solches Werk zu verfassen, kann ganz persönlich sein. So hat sich bei der sehr produktiven Essayistin und Schriftstellerin Roswitha Schieb mit der Zeit das Interesse an Osteuropa stetig verstärkt, auch deswegen, weil ihre Familie aus Schlesien stammt und unfreiwillig von dort umgesiedelt wurde. So heißt eines ihrer Bücher „Reise nach Schlesien und Galizien. Eine Archäologie des Gefühls“ (2000), ein späteres Reisefreiheit. Berichte und Erfahrungen aus Osteuropa“ (2016) und dazwischen steht ein „Literarischer Reiseführer Breslau“ (2004).

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„Die Trauer, das Weh, die Erinnerung.“

 „Es war dir bewusst, dass die Hinreise nach G. – vormals L. – eigentlich eine Rückreise war.“ Wer spricht hier mit wem und worüber? Der Satz findet sich in dem Roman „Kindheitsmuster“ von Christa Wolf. Im Sommer 1971 fährt die Autorin mit ihrem Mann, der jüngeren Tochter und dem Bruder nach Gorzów Wielkopolski, das vor 1945 Landsberg an der Warthe war. Die Familie habe es so gewollt, bemerkt sie und ergänzt etwas abschätzig : „Der Tourismus in alte Heimaten blühte“.  In die Rubrik „Begründung“ des damals noch notwendigen Antrags auf ein Visum trägt sie „Stadtbesichtigung“ ein, fügt im Roman allerdings hinzu: Besichtigung der sogenannten Vaterstadt.

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