„Denkst du des Schlosses noch auf stiller Höh ?“

Einige Reisenotizen zu Oberschlesien (Teil II)

Die Annäherung

Wer westlich sozialisiert ist und über sechzig Lenze zählt, der wird noch den guten alten erdfarben gebundenen Diercke-Weltatlas in Erinnerung haben, in dem sich  auf den Seiten 6 bis 8 eine geographische Karte des nördlichen Deutschlands in den Grenzen von 1937 fand. Die südöstlichste Auskragung mit den Städten Beuthen, Hindenburg, Gleiwitz, etwas nördlich noch Oppeln, das war das nach der Teilung 1922 bei Deutschland verbliebene Oberschlesien, Kattowitz gehörte in der Zwischenkriegszeit zu Polen.

Mittlerweile ist es möglich, Opole, Gliwice, Zabrze und Katowice recht komfortabel mit dem Direktzug über Wrocław anzusteuern. Es geht nicht ganz so schnell wie mit dem Fliegenden Schlesier in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Aber immerhin: wer am Berliner Hbf. um 10.37 (Ostbahnhof 10.52 Uhr) losfährt, ist um 14.50 Uhr in Breslau und kann um 16.48 Uhr in Kattowitz aussteigen.

Die Autoren nahmen 2015 allerdings das Automobil und schlagen eine Route über Görlitz, die niederschlesischen Sudeten und Glatz vor, um dann von Neiße aus, den weiteren Weg zu planen. In Neiße haben die Kriegsereignisse starke Zerstörungen hervorgerufen, die nicht mehr zu kompensieren waren/sind. Immerhin gibt es noch den „Schönen Brunnen“  in unschöner Umgebung, es finden sich Reste der Neißer Festung sowie die gewaltige gotische St. Jakobskirche. Das einstige „schlesische Rom“ lässt  heute eher an Karthago denken. Immerhin ist das Grab Eichendorffs und seiner Frau erhalten und restauriert.  Der im März  1788 auf Schloss Lubowitz geborene Dichter zog 1855 mit seiner schwer kranken Frau zu deren Tochter nach Neiße. Nach dem baldigen Tod seiner Ehefrau  lebte der Dichter weiter bei der Familie der Tochter. Am 26. November 1857 verstarb er an den Folgen einer verschleppten Lungenentzündung. Aus dem Ort stammen auch die Schriftsteller Max Hermann, der in seinen Autorennamen die Stadt integrierte, und Franz Jung, der anarchistische Geheimtipp der deutschen Literatur.

Ein Besuch bei Eichendorff

Wer an Eichendorff interessiert ist, wendet sich weiter nach Süden, um nach Lubowitz zu fahren, wo die Schlossruine derer von Eichendorff steht und wo gleich nebenan das „Oberschlesische Eichendorff-Kultur-und-Begegnungszentrum“ eine preisgünstige Unterkunft anbietet. Um das verfallene Schloss, eher ein größeres Gutshaus, erstreckt sich ein kleiner Park mit Hinweisen zum Leben des Dichters und einigen Tafeln, auf denen  Gedichte des Romantikers prangen. Hierher reisen des öfteren Gruppen von älteren Vertriebenen, Schulklassen oder Studenten aus Polen und Deutschland sowie Literaturinteressierte aus der ganzen Welt. Ab und zu kommen Dichterkollegen. So hat der Lyriker Norbert Hummel  über den Ort kürzlich  ein kleines Reisefeuilleton publiziert.

Von Lubowitz lenkte unser Navigationsgerät uns – mit  abenteuerlicher Aussprache polnischer Orts- und Straßennamen – Richtung Racibórz. Das frühere Ratibor ist eine sehr lebendige unweit der tschechischen Grenze liegende Stadt, die  zugänglich, weltoffen, freundlich, auch in Maßen wohlhabend wirkt. In der Innenstadt hat sich etwas habsburgische Bausubstanz erhalten, auf dem Ring sind mehrere große Cafés, es schienen  zahlreiche Besucher unterwegs zu sein. Wir sahen mindestens ein Dutzend Autos mit deutschen Kennzeichen, vielleicht von Leuten, die auf Verwandtenbesuch waren.  Vielleicht waren sie aber auch  genuine Heimwehtouristen, die man in Schlesien des Öfteren antrifft. Wer die Zeit hat, sollte Abstecher ins tschechische  Opava (früher Troppau) mit seinem gerade hundert gewordenen Schlesischen Museum und in die malerische polnisch-tschechische Doppelstadt Cieszyn/Cesky Tesin (früher Teschen ) mit den alten  habsburgischen Bauten und Gassen unternehmen. Wir haben uns diesmal gleich nach Kattowice/Kattowitz aufgemacht.

Nikolausrotunde (Rotunda św. Mikołaja) in Teschen (Cieszyn)

Exkurs:  Schlesier sein

In einem der modernen Einkaufspaläste in Kattowitz: Direkt neben den Filialen der internationalen Ketten H&M und Douglas eine dunkel gestrichene Wand mit Wörtern: bryly – okulary, sicherka – agrafka. Es handelt sich um eine Gegenüberstellung von Wörtern gleicher Bedeutung in ihrer schlesischen und polnischen Variante. Beim genaueren Hinsehen ist der Einfluss der deutschen Sprache auf das nur in Oberschlesien/Slask gesprochene „Schlesische“ unübersehbar, wenn auch eine polnische Rechtschreibung bzw. Endung vorliegen. So wird aus der Brille eben bryly und aus der Sicherheitsnadel sicherka.

Das Schlesische wird von den einen als Dialektvariante des Polnischen angesehen, von den anderen als eigenständige Mischsprache mit polnischen, tschechischen und deutschen Elementen. Lange Zeit wurde diese Mundart, abfällig auch „Wasserpolnisch“ oder „Schlonsakisch“ genannt, nur gesprochen. Im sozialistischen Polen war sie verpönt, da Dialekte als rückständig galten und die vielen Germanismen Anstoß erregten. Doch seit dem Systemwechsel bemühen sich einige Kreise um eine Wiederbelebung und Aufwertung, auch indem sie eine Verschriftlichung anstreben und dafür eine eigene Orthografie entwickelt haben. So wird aus dem polnischen śląsak der ślónzok.en antrifft.

Bei der letzten Volkszählung (2011) führten in Polen 509 000 Personen an, schlesisch zu sprechen. Brisanter noch ist die Angabe, dass sich 817 000 polnische Staatsbürger als „ethnische Schlesier“ bezeichneten, weitere 109 000 übrigens als Deutsche.

Bereits 1990, also kurz nach der politischen Wende, hat sich eine Bürgerbewegung für die Autonomie Schlesiens gebildet (Ruch Autonomii Śląska, kurz RAŚ), deren Ziel es ist, eine stärkere Selbstverwaltung der beiden oberschlesischen Woiwodschaften (Śląsk und Opole) zu erreichen. 2010 erreichte diese bei Regionalwahlen 8,49% der Stimmen. Von den deutschen Medien weitgehend unbeachtet erstarkt hier eine Unabhängigkeitsbewegung, wie sie auch in anderen Regionen Europas (u.a. Katalonien, Schottland, Flandern) existiert.  Diese wird im zentralistisch regierenden Warschau nicht gerne gesehen; die Schlesier gelten dem politischen Establishment (anders als z.B. die Kaschuben) nicht als eigene Ethnie. Besonders den Nationalisten sind die aufmüpfigen Schlonsaken ein Dorn im Auge.

Filharmonia Śląska

Die oberschlesische Metropole

Kattowitz  ist im Umbruch. Viele Gebäude der kommunistischen Ära werden modernisiert oder abgerissen und durch neue, teilweise amerikanisch inspirierte ersetzt. Trotzdem hat sich die Innenstadt einige gründerzeitliche Straßenzüge bewahrt. Wie überall in den polnischen Städten wirkt die Bevölkerung aktiv, jugendlich. Die Stadt ist eine Drehscheibe für den Ost-West-Handel geworden, viele Unternehmen aus dem Ausland haben sich hier niedergelassen, die Stadt ist infrastrukturell begünstigt und sie hatte in gewisser Weise bereits als polnisches Vorzeigeobjekt von der Abtrennung 1922 profitiert. Kattowitz ist unbestritten die oberschlesische Metropole mit der höchsten Einwohnerzahl aller oberschlesischen Städte, mit den meisten und größten Einkaufsmöglichkeiten, mit zahlreichen Kultureinrichtungen, wie dem in diesem Sommer an neuer Stelle neu eröffnenden „Muzeum Śląskie“, der neuen „Filharmonia Śląska“, dem Theater, der „Biblioteka Śląska“, vor allem der Universität. Sehenswert sind auch die Repräsentationsbauten aus der Zwischenkriegszeit und die gut geplanten Wohnhochhäuser aus der sozialistischen Phase Polens. 

Viel wäre noch zu sehen in Oberschlesien. So sei nachdrücklich auf einen kleinen, aber überaus gehaltvollen Reiseführer hingewiesen, den die „Śląska Organizacja Turystyczna“ in Katowice herausgegeben hat. In gedrängter, informationsreicher bebildeter Darbietungsform stellt das Büchlein auf 135 Seiten die Woiwodschaft „Śląsk“ (Schlesien) vor, also Oberschlesien ohne den nördlichen Oppelner Teil. Sehr reizvoll wäre es, seine Reise in die ostmitteleuropäische Region Oberschlesien anhand eines der Routenvorschläge (Kulinarische Route, Weg der Adlerneste, Holzarchitekturroute, Route der technischen Denkmäler) zu planen.  Auch auf der Netzseite www.silesia.travel kann man sich in mehreren Sprachen informieren.

 

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