„Wo der rote Himmel glüht im Feuerschein…“ 

Einige Reisenotizen zu Oberschlesien (Teil I)

Was haben Städte wie Bottrop und Wittenberge gemeinsam? Oder Chemnitz und Frankfurt/Main? Sie werben um Touristen, indem sie auf Fördertürme, ein Stellwerk, eine ehemalige Strumpfwirkerei oder das IG-Farben-Haus aufmerksam machen. Dieser neue Ansatz geht von der Frage aus, ob nicht Zeugnisse des Industriezeitalters, die die Lebenswelt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts widerspiegeln, dasselbe Interesse wecken könnten wie Schlösser und Prachtbauten früherer Zeiten. Schon in den 60er Jahren erkannte das Künstlerehepaar Hilla und Bernd Becher die Aussagekraft und den ästhetischen Reiz von Wassertürmen, Gasbehältern und Fabrikanlagen und begann diese fotografisch zu dokumentieren. Während der Stahl- und Kohlekrise der 70er und 80er Jahre fotografierten sie z.B. Anlagen im Ruhrgebiet, die bald darauf für immer verschwunden waren. Inzwischen macht das Schlagwort von den „Kathedralen der Arbeit“ die Runde und dient vielerorts den Städten zur Selbstvermarktung. Sanierung und Nachnutzung heißt dann meist die Perspektive für die nutzlos gewordenen Kolosse. 

Die Suche nach den eigenen familiären Wurzeln hat die Autoren dieses Reiseberichts nach Oberschlesien geführt, das bekanntlich nach 1945 an Polen fiel. Dort hatten die Industriekomplexe die Zeiten bis 1989 zwar nahezu unbeschadet überdauert, doch inzwischen prägt auch in Bytom (Beuthen) und Katowice (Kattowitz) der Abschied von Kohleförderung und Montanindustrie das Stadtbild.

Oberschlesiens  Industrierevier

Die Wirtschaft Gesamtschlesiens wurde in der Neuzeit besonders durch zwei Gewerbe bestimmt, die Leineweberei und den Bergbau. Für die Weberei  brachte die Industrialisierung einen gewaltigen Einbruch, der Montanindustrie bescherte sie einen ungeahnten Aufschwung. 

Unter dem preußischen Oberfinanzrat Graf Friedrich Wilhelm von Reden (1752 – 1815) kam es zu einer Bergwerksreform in Oberschlesien, in deren Verlauf neue Eisenhütten in Gleiwitz und Königshütte gegründet wurden. Die Förderung von Steinkohle und verschiedenen Erzen kam zu neuer Blüte.  Reden ließ die Infrastruktur verbessern,  und in Tarnowitz wurde eine Bergschule zur Ausbildung qualifizierter Steiger eingerichtet.  Redens Beitrag wird heute übrigens auch in Polen gewürdigt.  So wurde 2002 das ursprünglich 1852 errichtete Reden-Denkmal in Chorzów wieder aufgestellt.

Der zeitweilige Aufstieg der oberschlesischen Montanindustrie verbindet sich mit den Namen sogenannter „Magnaten“, Godulla, Ballestrem, Schaffgotsch, v. Winckler, Henckel von Donnersmarck, allesamt Großunternehmer, die Gruben  und Hütten besaßen. 

Der Arbeitskräftebedarf ließ die Zahl der Einwohner in Städten wie Beuthen (Bytom), Königshütte (Chorzów), Gleiwitz (Gliwice), Kattowitz (Katowice) und der Gegend um Zabrze schnell anschwellen. Das südliche Oberschlesien wurde zum stark verdichteten Siedlungsgroßraum, noch heute hat Oberschlesien die größte Bevölkerungsdichte Polens. 

Arbeitersiedlungen

Der Bau von Arbeitersiedlungen im Umfeld von Zechen und Industriebetrieben wurde also notwendig,  weil in der rasch expandierenden Branche eine erhebliche Wohnungsnot entstanden war. Sie sollten die Arbeiter durch vergleichsweise komfortable Wohnbedingungen an das Werk binden und wurden teilweise von namhaften Architekten geplant. 

Unsere Route führt uns von Siedlungen, die offenbar unbeschadet und unrenoviert die Zeiten überdauert haben, zu Vorzeigeprojekten, die bereits auf dem Weg der Gentrifizierung sind. In Chorzów (Königshütte) hat der Denkmalschutz die kleinen Siedlungshäuser mit der schmutzig-grauen Fassade wohl  vorerst übersehen. Hier wurden Einfamilienhäuser gebaut, die auch die Anlage eines kleinen Nutzgartens ermöglichten. Nur ein kurzer Straßenabschnitt mit 5-6 Häusern ist erhalten geblieben.

Anders ist es der Siedlung „Ficinus“ in Ruda Śląska (Ruda)ergangen, die hell in sandgestrahltem Naturstein und neu aufgemauerten Ziegeln leuchtet, inzwischen einige Läden und Restaurants beherbergt, aber auch museal wirkt im Umfeld der in Plattenbauweise errichteten sechsstöckigen Mietshäuser der sozialistischen Ära. 1860-67 für die Arbeiter der Zeche „Gottessegen“ errichtet, folgte man auch hier ebenfalls dem Prinzip des Einfamilienhauses mit Garten, was sie, inzwischen auch mit modernem Wohnstandard ausgerüstet, für junge Mittelschichtsfamilien der Gegenwart  attraktiv macht. 

Szenenwechsel: Wir sind in Biskupice (Biskupitz), einem Ortsteil von Zabrze (Hindenburg). Im Jahr 1862 verlegte die Firma Borsig Teile ihrer Produktionsanlagen nach Nieder- und Oberschlesien. Borsig richtete für seine Arbeiter eine Krankenkasse, eine Sterbekasse und eine Sparkasse ein    und ließ 1863-1871 eine großräumige Siedlung im Umfeld der Zechen Hedwigswünsch und Ludwigsglück anlegen. Die Anlage umfasste eine Schule, Häuser für die Lehrer, einen Park, eine Sporthalle, eine evangelische Kapelle und einen Friedhof. Für die damaligen Zeiten war der Standard hoch:  Die Wohnungen hatten im Durchschnitt 55 qm Wohnfläche, bis zu 3 Zimmer, eine Küche, fließendes Wasser und Toiletten im Treppenhaus.  In der traditioneller Bauweise mit dunkelroten Ziegeln, den wir auch im Ruhrgebiet antreffen, entstanden zunächst 50 zweistöckige Gebäude. In Polen nennt man diese typischen Mehrfamilienhäuser der Arbeitersiedlungen übrigens „Familok“, abgeleitet  vom Wort „Familie“.  

Ganz ähnlich war das Konzept der Siedlung Nikischschacht (Nikiszowiec), die sich südöstlich vom Zentrum in Katowice befindet. Die Siedlung wurde 1908 – 1919 nach Plänen der Charlottenburger Architekten Emil und Georg Zillmann für die Bergleute der Giesche-Grube gebaut. Der Name leitet sich von dem unmittelbar benachbarten Zechenschacht ab. Während die Zillmann-Brüder für die Siedlung Gieschewald (Giszowiec) noch die Vorgabe hatten, sich am englischen Konzept der Gartenstadt zu orientieren, hatten sie bei Nikischschacht freie Hand. Das Ergebnis ist auch heute noch atemberaubend. Die Siedlung, deren Anlage am besten auf einem Luftbild zu erkennen ist, besteht aus neun ringförmigen Wohnblocks mit Innenhöfen. Auch hier handelt es sich um „Familoki“, aber anders als in der Borsigsiedlung sind die Häuser gewissermaßen individualisiert, indem sie sich durch architektonische Details wie Form und Größe der Fenster, Balkone und Erker unterscheiden. An dem zentralen dreieckigen Platz (heute: Plac Wyzwolenia) findet man die mit Rosen markant gestaltete Fassade des  Postgebäudes, die neobarocke, ebenfalls mit Ziegeln errichtete katholische Kirche der Hl. Anna,  Läden, Restaurants sowie ein kleines Museum in einer ehemaligen Wäscherei, wo u.a. eine typische Bergmannswohnung der 20er Jahre zu sehen ist. 1978 wurde die komplett erhaltene Siedlung unter Denkmalschutz gestellt. Dem Augenschein nach wohnen hier inzwischen auch gerne hippe junge Leute und man kann sogar Ferienwohnungen anmieten. Strukturwandel nennt man das wohl.                                                          

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert