Stadtspaziergänge

Frédéric Chopin, Carl von Holtei, J.W. Goethe und Alfred Kerr kehrten hier ein: Der Schweidnitzer Keller im Historischen Rathaus lädt seit 1273 nicht nur illustre Gäste ein.

Literarische Reiseführer wenden sich vornehmlich an Bildungsreisende, grundsätzlich aber auch an all jene, die auratische Orte besuchen wollen, wo Kulturgeschichte vermeintlich oder wirklich erfahrbar wird. Das Motiv, ein solches Werk zu verfassen, kann ganz persönlich sein. So hat sich bei der sehr produktiven Essayistin und Schriftstellerin Roswitha Schieb mit der Zeit das Interesse an Osteuropa stetig verstärkt, auch deswegen, weil ihre Familie aus Schlesien stammt und unfreiwillig von dort umgesiedelt wurde. So heißt eines ihrer Bücher „Reise nach Schlesien und Galizien. Eine Archäologie des Gefühls“ (2000), ein späteres Reisefreiheit. Berichte und Erfahrungen aus Osteuropa“ (2016) und dazwischen steht ein „Literarischer Reiseführer Breslau“ (2004).

Sieben Stadtspaziergänge bietet dieses Buch, anhand derer sich die Kulturgeschichte der Odermetropole, heute viertgrößte Stadt Polens, nachvollziehen lässt. Die Lektüre sollte man mit dem Anhang beginnen, weil dort ein stichwortartiger historischer Abriss die wechselnden Herrschaften, die kriegerischen Verwüstungen, das Aufblühen im 19. Jahrhundert, Finis Silesiae 1945 sowie die polnische Übernahme nachvollziehen lässt. Die einzelnen Kapitel leiten zu Dichterwohnungen, Kirchen und Synagogen, erklären Denkmäler, Kaufhäuser, Prachtbauten wie die Universität. Man ist erstaunt, wieviel trotz der Kriegszerstörungen geblieben bzw. mit historischem Sinn wieder rekonstruiert wurde.

Aula Leopoldina der Universität Breslau

Die vielen, aber nie ausufernden Zitate – gleiches gilt für das Bildmaterial –lassen Geschehnisse aus der verflossenen Zeit im Leserbewusstsein Gestalt gewinnen. Ein Blick ins Personenverzeichnis belegt, wie reich die kulturelle Vergangenheit der zu WrocƗaw gewordenen Stadt gewesen ist. Der Bogen spannt sich von Martin Opitz bis Marlene Dietrich, von John Quincey Adams, der amerikanischer Präsident wurde, bis Norbert Elias, von Eichendorff bis zu Dietrich Bonhoeffer und der im KZ umgekommenen Karmelitin Edith Stein.

Grabstätte der Eltern von Edith Stein

Denkmal für Johannes Scheffler, besser bekannt als Angelus Silesius

Roswitha Schiebs Buch wurde sehr positiv rezensiert. In der NZZ hieß es: „Ein Reiseführer, dessen Lektüre fast die Reise selbst ersetzt.“ Aber eben nur fast! Da die Zugverbindungen nach Dolny Śląsk (Niederschlesien) sich verbessert haben, wäre, sobald dies wieder möglich ist, eine Reise nach Breslau anzuraten, Schiebs Reiseführer im Gepäck.

(R. Schieb: Literarischer Reiseführer Breslau. Deutsches Kulturforum östliches Europa, 12,10 €)

 

 

 

 

 

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