Das Zittauer Fastentuch hat eine lange und wechselvolle Geschichte. 1472 wurde es von einem unbekannten Meister (eine Meisterin wäre in diesem Falle extrem unwahrscheinlich) und vermutlich auch einigen Helfern geschaffen. Gestiftet, d.h. finanziert hat es ein Gewürz- und Getreidehändler. Die 6,80 m breite und 8,20m hohe Leinwand ist eine illustrierte Bibel: Sie erzählt in 90 Bildern die biblische Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht. In Deutschland ist es das einzige seiner Art. In der Fastenzeit, also von Aschermittwoch bis Ostersonntag, dienten solche Tücher zur Verhüllung des Altars, in diesem Falle zum Abschluss des gesamten Altarraumes. So sollten die Gläubigen nicht nur körperlich auf etwas verzichten, sondern sozusagen auch visuell hungern und der gesamten Liturgie nur hörend folgen. Im Volksmund hießen solche Tücher manchmal auch „Schmachtlappen“.
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Abschied von Turin
Den Geist, das Fluidum einer Stadt verspüren zu wollen, wenn man nur kurz dort weilt, ist müßig. Nach Turin waren wir gekommen mit der Erwartung, dass die Piemontesen anders seien als die Süditaliener, insbesondere die Neapolitaner: ruhiger, gemessener, vornehmer, distanzierter, selbstbewusster. Ein Klischee, gewiss, aber alle Klischees bündeln Erfahrungen. Klischees verfestigen positive wie negative Urteile zu einem Gesamtbild, das in Reiseführern die Erwartung der Stadtbesucher zunächst bestimmt.
Als wir in Turin waren, im Vorfrühling, hatten nicht übermäßig viele Besucher die Stadt aufgesucht
Verkannt, verdrängt, vergessen
Wer kennt nicht die hell- und mittelblau gestreiften Keramikarbeiten von Hedwig Bollhagen aus Marwitz, die auf der Unterseite ein eingeritztes oder aufgemaltes HB als Markenzeichen tragen? Das berühmte Dekor prangt auf Butter- und Keksdosen, Tassen und Tellern und wird seit Jahrzehnten gern gekauft. Bollhagen übernahm 1934 eine bestehende Keramik-Werkstatt, die sie ab 1946 selbstständig leitete und erfolgreich durch Verstaatlichung und Reprivatisierung führte. Die Jahreszahlen sollten indes aufhorchen lassen, vor allem wenn man weiß, dass die Vorbesitzerin Margarete Heymann-Loebenstein nach England emigrieren musste. Die geschönte Firmengeschichte, die sich vielerorts findet, verschweigt manches.
Der Jäger des Verlorenen
Die Schatzkammer verbirgt sich im Gartenhäuschen. Wolfgang Wick geht voran und wir sind erst einmal sprachlos angesichts der Überfülle an Gegenständen, Büchern und Krimskrams, die sich auf Tischen und in Regalen stapeln. Drei Jahrzehnte hat der Sammler die Bestände zusammengetragen, Erzeugnisse aus der Lebenswelt der DDR.
Mich brennt´s in meinen Reiseschuh´n
Mich brennt´s in meinen Reiseschuh´n
fort mit der Zeit zu schreiten
was wollen wir agieren nun
vor soviel klugen Leuten
Ein Europäer aus Łόdż
„Ich lag im Krankenzimmer, und die Schwestern brachten mir Bücher, von Lermontow zum Beispiel. Ein Jahr lang lernte ich an Lermontow und Puschkin die kyrillische Schrift und die russische Sprache. Die Wachmänner baten mich anschließend, für sie Liebesbriefe zu verfassen, weil ich wie Puschkin schrieb.“ Karl Dedecius
Gerade in Zeiten eines zunehmenden Autoritarismus in Europa muss an einen großen Literaturvermittler, Brückenbauer, Büchermacher, Kulturfunktionär und gebildeten literarischen Übersetzer erinnert werden: Karl Dedecius. Dass 2016 die Nachricht seines Todes im 95. Lebensjahr selbst bei Kulturjournalisten nicht gebührend kommentiert wurde, will allerdings fast stimmig erscheinen. Denn der unermüdlich Arbeitende wurzelte in Verhältnissen, in denen ständige Selbstvermarktung und mediale Präsenz nicht oberstes Gebot waren.
Fern von Gebildeten…
…am Ende des Reichs: Oberschlesien stimmt ab.
Die kalendarische Wiederkehr eines historischen Ereignisses lenkt die Aufmerksamkeit auf Vergangenes, das sich in voneinander abweichenden Geschichtserzählungen erhalten hat. Als Erinnerungsanlass ist das oberschlesische Plebiszit vom 20. März 1921 ein gutes Beispiel für konkurrierende, sich fortentwickelnde Deutungen. Die Überschrift bedient sich auszugsweise eines Epigramms von J.W. von Goethe, das er der Knappschaft von Tarnowitz im September 1804 verehrte und das den Landstrich, in dem er sich befand, freundlich, aber mit leichter Befremdung, vielleicht Herablassung charakterisiert: Oberschlesien.
Oma kommt aus Schlesien …
…genauer: aus Oberschlesien oder Niederschlesien. Dass zwischen den beiden Teilen der Provinz Schlesien ein großer Unterschied bestand und besteht, ist vielen nicht bekannt. Dass beide Teile, heute aufgeteilt in die Woiwodschaften Opolskie, Śląskie, Dolnośląskie, nicht mehr zu Deutschland gehören, schon eher. Dass es nach dem Zweiten Weltkrieg Bevölkerungsverschiebungen von Ost nach West gab und etwa 14 Millionen Menschen aus den Ostprovinzen des Deutschen Reichs seit Ende 1944 nach Westen flüchteten oder dorthin umgesiedelt, ausgewiesen oder vertrieben wurden – die Wortwahl folgt der jeweiligen weltanschaulichen Optik –, wissen zumindest all jene, die aus einer Vertriebenenfamilie stammen.
Ein Prosit oder Tod der Gemütlichkeit!?
Linke und andere Heimatdiskurse
Das Thema Heimat erlebt eine Phase der Hochkonjunktur. Mag sein, dass der September 2015 die Schleusen für einströmende Gedanken über deutsche Befindlichkeiten, deutsche Heimaten weit geöffnet hat. In den vergangenen vier Jahren jedenfalls häuften sich journalistische Texte und soziologische Veröffentlichungen über das Lebensgefühl und die gesellschaftliche Lage von Zugewanderten, von in Deutschland geborenen Menschen mit ausländischen Wurzeln und von sich gerade ansiedelnden Flüchtlingen. Desgleichen kursieren seit einiger Zeit Artikel unterschiedlichsten Niveaus über die Identität derjenigen, „die schon länger hier sind“ und gelegentlich noch „Einheimische“ genannt werden. Die einen fragen sich, ob der Heimatbegriff nicht überholt sei, im Grunde nur ein Zeichen für einen (präfaschistischen) Nationalismus: die „Heimat“ ein Wort, das ausgrenze. Die anderen vermuten, dass die völlige Aufgabe eines gemeinschaftsstiftenden Herkunfts- und Zugehörigkeitsgefühls zugunsten einer warmherzigen, aber realitätsfernen Weltumarmung die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gefährden könnte.
Der Tod ist für mich nichts Außergewöhnliches. Ich red‘ ja über das Sterben wie ein anderer über eine Semmel. (Thomas Bernhard)
Friedhöfe ziehen Touristen an, wenn die Gräber Überreste verblichener Zelebritäten beherbergen. Auf dem Cimetière Père Lachaise gibt es den mit zahllosen knallroten Kussspuren seiner Verehrer fast gänzlich übermalten Stein Oscar Wildes. Chopin liegt auch hier und zieht noch immer Verehrerinnen in seinen Bann. Das Philosophenduo De Beauvoir und Sartre erwartet seine Fans am Nordausgang des Cimetière du Montparnasse. Die Liegestätte ist von Hunderten Zigarettenkippen übersät, vielleicht als Hommage an die leidenschaftlichen Raucher? Leser Heinrich Heines finden dessen Grab auf dem Cimètiere de Montmartre, wo er zusammen mit seiner Frau im katholischen Sektor des Friedhofs ruht.