„Kalter scharfer Wind empfing mich auf der Höhe. Dicht in den Mantel gehüllt, sah ich ein schönes und eindringliches Bild: über altes Gemäuer hinweg ringsum die umbrische Landschaft, licht und grün, von einem gewaltigen Kreis hoher, noch mit Schnee bedeckter Berge eingeschlossen. Jeder Blick streift nah oder fern irgendeine alte berühmte heilige Stätte, da liegen Spoleto, Perugia, Assisi, Foligno, Spello, Terni, dazwischen hundert kleinere Orte, Dörfer, Kirchen, Höfe, Klöster, Burgen und Landhäuser, ein Land voll Geschichte, voll römischer und noch vorrömischer Denkmäler, durchflossen vom kleinen Fluss Clitumnus.“ (Hermann Hesse in Montefalco, 1907)
Archiv für den Monat: Mai 2020
Heilige, Erdbeben und Linsengerichte
Der junge Giovanni Bernardone, Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers, führt ein sorgloses und freizügiges Leben. Als ein Krieg zwischen benachbarten Provinzen ausbricht, wird er, wie es für Männer seines Standes üblich ist, Soldat, um Ruhm und Ehre zu erwerben. Doch er gerät in Gefangenschaft und verbringt als Zwanzigjähriger mehrere Monate in Haft. Einige Zeit später passiert etwas Seltsames; Giovanni begegnet einem Aussätzigen, ist schockiert, fühlt sich abgestoßen ─ ein Schlüsselerlebnis. Fortan scheint er, der Angehörige der Oberschicht, die Lage der Armen, der Bettler und unversorgten Kranken mit anderen Augen wahrzunehmen. Wir befinden uns im Jahr 1206 und kennen den Mann aus Assisi besser unter seinem Spitznamen Francesco (Französlein), den man ihm wegen der Herkunft seiner Mutter verpasst hat. Franz sagt sich mit 25 öffentlich von seinem Vater los (Giottos Vorstellung von dieser Szene zeigt das obige Bild), verzichtet auf dessen Geld und widmet sein Leben fortan der tätigen Nächstenliebe und dem Glauben.