Pompeji empfängt in seinem dritten Leben, das 1748 beginnt, einen ständig wachsenden Strom von Besuchern. Waren es, als die ersten Ausgrabungen bekannt wurden, zunächst Bildungsreisende auf Grand Tour, so sind es vor der Pandemie vier Millionen Touristen pro Jahr gewesen. In seinem ersten Leben war Pompeji eine pulsierende Handelsstadt mit zwei Häfen, seit ca. 700 v. Chr. besiedelt, zunächst von den italischen Oskern, dann von Etruskern und Griechen. Besonders die samnitische Eroberung im 5. Jahrhundert hat in der Architektur und Dekoration Spuren hinterlassen. Erst im 3. Jh. vor Chr. kamen die Römer nach Kampanien, 80 v. Chr. wurde die Stadt zur römischen Kolonie. Als solche war ihr eine Existenz von knapp 160 Jahren vergönnt. Dann ereignete sich die Katastrophe.
Der Ausbruch
Am 24. Oktober des Jahres 79 n.Chr. (dieses Datum wurde aufgrund neuerer Erkenntnisse ermittelt) erhob sich aus dem Vesuv eine gewaltige Eruptionssäule von 32 Kilometern Höhe, also bis in die Stratosphäre. Ein Regen aus Bimssteinen, Fragmenten erstarrten Magmas, ergoss sich über die Stadt. Anders als in den zwanzigtausend Jahren vulkanischer Aktivität zuvor trieben die Winde die Materialwolken nach Süden. In Pompeji lagerten sich in den folgenden 18 bis 19 Stunden drei Meter Bimsstein ab, ca. 15cm pro Stunde. Die Straßen füllten sich, durch offene Türen und Fenster wurden Innenräume verschüttet, Flachdächer brachen ein, Ausgänge wurden blockiert. Als Fluchtwege blieben nur noch Fenster und Balkone im oberen Stockwerk.
Nach etwa 20 Stunden kollabierte die Eruptionssäule, es bildeten sich Asche- und Gaswolken, die sich mit gewaltiger Geschwindigkeit bewegten und alles mitrissen. Insgesamt sieben dieser so genannten pyroklastischen Ströme fegten innerhalb von drei Tagen über Pompeji hinweg. Der vierte war der tödlichste. Er zerstörte intakt gebliebene obere Stockwerke und tötete alle Einwohner, die sich noch dort oder in den Straßen aufhielten. Sie erstickten, erlitten einen thermischen Schock oder wurden von umherfliegenden Trümmern erschlagen.
Der Ausbruch veränderte die Form des Vulkans, dessen Masse sich verdoppelte, verschob die Küstenlinie um einige Kilometer und schuf fruchtbare Landschaften. Doch zunächst kehrte Ruhe ein. Das Areal begrünte sich. Pompejis zweites Leben als Friedhof und Konserve der Antike dauerte fast 800 Jahre. Nur Grabräuber verschafften sich immer wieder Zugang zum Gelände, um wertvolle und leicht zu transportierende Gegenstände zu suchen.
Ein Gang durch Ruinen
Der heutige Besucher ist den unterschiedlichsten Eindrücken ausgesetzt. Oft drängt sich der Gedanke auf, dass diese Stadtgesellschaft des ersten nachchristlichen Jahrhunderts erstaunlich modern war; Reklame und Wahlwerbung prangt an den Hauswänden, Graffiti sind teils amüsant, teils vulgär; man ging zur Ertüchtigung in die Palestra, das Sportstudio, aß mittags außer Haus im Thermopolium, einer Snackbar, zu Schauspiel und Sportevents traf man sich im Amphitheater.
Die Kehrseite erschließt sich erst, wenn man sich die Erkenntnisse der Archäologen genauer ansieht. Aus einer Grabinschrift lässt sich ableiten, dass Pompeji in den Jahren vor dem Ausbruch 6840 Vollbürger hatte, d.h. erwachsene Männer. Dazu kommt eine nicht dokumentierte Zahl an Frauen, Kindern, Sklavinnen und Sklaven. Letztere stellten die Gladiatoren, die sich zum Amüsement der Zuschauer blutige Kämpfe untereinander wie auch mit Raubtieren zu liefern hatten. Ein Fresko im Archäologischen Museum von Neapel zeigt einen blutüberströmten Mann, der den linken Zeigefinger hebt: „Ich gebe auf!“ Begnadigung oder Tötung des Unterlegenen hingen vom Publikum ab.
Erst vor wenigen Wochen ging die Nachricht durch die Presse, dass bei den weiterhin stattfindenden Ausgrabungen ein „Sklavenzimmer“ gefunden worden war. Es handelt sich um einen 16 qm großen Raum neben einem Pferdestall, der zwei normale Betten und ein kleineres enthält, Amphoren, Pferdegeschirr, Werkzeug. Die Betten sind mit Schnur bespannte Holzrahmen, auf denen ein Stück Stoff lag. Auch ein Nachttopf ist vorhanden. Möglicherweise hat eine Familie hier gewohnt.
Der aufmerksame Leser wie auch die Leserin werden sich fragen, wieso hölzerne Rahmen, Schnur und Stoff das Inferno überstehen konnten. Bei diesem Fund kam eine Methode zum Einsatz, die auch zahlreiche Körper von Menschen im Todeskampf bewahrt hat. Die Archäologen stoßen im Material auf Hohlräume, Orte, an denen Menschen oder Objekte von den Lapilli (Gesteinsfragmenten) verschüttet wurden; die organische Substanz löste sich mit der Zeit auf. Im Jahr 1863 hatte der Grabungsleiter Guiseppe Fiorelli, als in einem Hohlraum ein menschliches Skelett sichtbar wurde, die geniale Idee, diesen mit Gips auszugießen. So haben wir nun eine Replik der Sklavenbetten, aber auch erschütternde Abbilder von einem Mann, der sich unter dem Steinregen hinhockt und das Gesicht mit den Händen zu schützen versucht, von einem jungen Mädchen, das vom Aschesturm niedergeworfen wird und von vielen anderen Opfern. Die Fliehenden trugen Geldbeutel bei sich, Wertgegenstände – und den Hausschlüssel.
Kunst am Bau
Anders als das Sklavenzimmer, dessen Wände unverputzt grau sind, leuchteten die Innenräume herrschaftlicher Villen in vielen Farben. Mosaike und Fresken erzählen mythische Geschichten: die Opferung der Iphigenie, den Raub Europas (s.o.), die Verführung Ledas durch den Schwan, zeigen aber auch Alltagsszenen und Porträts der Bewohner. Esszimmer sind mit Singvögeln und Blumenranken dekoriert, Schlafzimmer mit erotischen Motiven, Flure mit großen Farbtafeln. Auch die Schnellimbisse und Läden sind geschmückt. Ein erst 2020 ausgegrabenes Thermopolium zeigt Stockenten, einen Hahn sowie ein Abbild des Ladens. Der ebenfalls angebrachte grimmige Wachhund ist mit einem nachträglich eingeritzten Schriftzug versehen: NICIA CINAEDE CACATOR (Nicias schamloser Scheißer). Das war kein Hundefreund! Analysen der Speisereste, die sich in den Tonbehältern fanden, lassen Rückschlüsse darauf zu, was die Pompejaner aßen: Enten, Schweine, Ziegen, Fische, Schnecken, Käse, Gemüse, Obst, Linsen, Zwiebeln und natürlich tranken sie Wein. Und wieder ein Phallus-Relief! Da es sich hier eindeutig nicht um ein Bordell handelt, vermutet man, dass durch die Abbildung eine symbolische Gefahrenabwehr erzielt werden sollte, der geflügelte Phallus gilt als Garant der Fruchtbarkeit und des Glücks.
Im Archäologischen Museum in Neapel sind entsprechende Fundstücke, auch Fresken, die Priapus mit einem unmäßig großen Glied zeigen, in einem besonderen Kabinett untergebracht. (siehe dazu unseren Beitrag vom 22. März 2020). Erst seit 1960 haben Frauen hier Zutritt. Inzwischen bittet man nur darum, dass Kinder unter 14 die Räume in Begleitung ihrer Eltern betreten. Auch besonders schöne und wertvolle Fresken sind ins Museum gebracht worden. Da, wo sie vor Ort bleiben, müssen sie vor den Einflüssen der Witterung und leider auch vor den Touristen geschützt werden.
Alltagsleben
Wer durch die mit Basalt gepflasterten Straßen Pompejis, die von schmaleren, erhöhten Gehsteigen gesäumt sind, schlendert, glaubt womöglich, dass es hier immer so sauber und ordentlich aussah – ein Irrtum! In den Küchen der Häuser fanden sich in den Boden eingesetzte Amphoren mit durchlöchertem Boden, „Mülleimer“, in denen Flüssigkeit versickern konnte, darunter besondere Gefäße für Fischabfälle, Mülltrennung der ersten Stunde. Der Inhalt der Abfallbehälter wurde indessen auf die Straße gekippt, so auch am Tag des Vulkanausbruchs. Wer diesen dann irgendwann zur städtischen Deponie brachte, ist unbekannt. Ein großes Ärgernis, das bezeugen Inschriften, waren jedenfalls diejenigen, die dem Abfall noch ihre eigenen Ausscheidungen hinzufügten. Eine Wandbeschriftung verflucht sie und droht mit einer Strafe von 20 Sesterzen, sollten sie erwischt werden.
„In Pompeji“, schreibt der langjährige Direktor Massimo Osanna, „spürt man mehr als an jedem anderen Ort die Nähe der Vergangenheit zu unserer Gegenwart“. Dieses Gefühl werde vor allem durch die Spuren des täglichen Lebens hervorgerufen, die dieser Ort nach wie vor preisgibt. Besonders nah kommen uns die Bewohner in den Grafitti, die teils Wahlwerbung sind oder auch Botschaften, denen wir uns hier und heute anschließen könnten, z.B. in der Unterführung unseres S-Bahnhofs: Ich wundere mich, dass du, Wand, noch nicht zusammengebrochen bist, wo du doch so viele Dummheiten vonseiten der Schreiber erträgst.
Mitreißend geschrieben. Danke für euren Reisejournalismus.