Im traurigen Monat November war’s… fühlte sich aber an wie ein goldener Oktober. 14 Grad waren angekündigt, aber am frühen Morgen ahnte man doch schon winterliche Temperaturen. Unsere erste Station war der Waldfriedhof in Halbe, dessen Vorgeschichte im Eingangsbereich auf Bild- und Texttafeln dargestellt wird.
Nach der gewonnenen Schlacht bei Seelow im April 1945 rückte die Rote Armee weiter nach Westen vor. Bei Halbe wurden ca. 200 000 Menschen eingekesselt, Soldaten der Wehrmacht, Flüchtlinge aus dem Osten, Bewohner der Region. Als am 1. Mai 1945 die Schlacht beendet war, mussten die Überlebenden (auf den Fotos sind nur Frauen und Kinder zu sehen) die in den Wäldern verstreuten Leichen und Leichenteile bergen und in zunächst provisorischen Gräbern bestatten. Erst 1951 begann man mit dem Bau eines großen Zentralfriedhofs in einem Waldgebiet. Von den in den nächsten fünf Jahren umgebetteten 22 000 Personen konnten 8000 identifiziert werden. Neben den unmittelbaren Opfern der Kesselschlacht wurden auf dem Gelände auch Deserteure der Wehrmacht und ca. 6000 Menschen aus einem Massengrab umgebettet, die in dem 1945-47 vom sowjetischen Geheimdienst betriebenen NKWD-Lager Ketschendorf zu Tode gekommen waren. Übrigens werden in Brandenburg noch immer ca. 300 Kriegsopfer jährlich geborgen und in eine der existierenden Kriegsgräberstätten umgebettet.
Weiter ging es nach Märkisch Buchholz, ein idyllisches Städtchen am Rande des Spreewalds, dessen größte Sehenswürdigkeit ein unter Denkmalschutz stehendes Wehr ist, das im Dahme-Umflut-Kanal einen Höhenunterschied von 5,5 Metern überbrückt. Für wandernde Aale hat man hier eine „Aalleiter“ (aufwärts) sowie ein „Aalrohr“ (abwärts) gebaut, für wasserwandernde Touristen eine Bootsschleppe.Unweit des Wehrs befindet sich der Dorffriedhof mit dem Grab Franz Fühmanns.
Noch vor der Wende, in den frühen Achtzigern, hatte ein Kollege unserer Schule Franz Fühmann in einen seiner Kurse eingeladen. Er beeindruckte die Schüler mit seinem Ernst, seiner Freimütigkeit, der Bereitschaft, sich auf ihre Fragen einzulassen. Er las aus dem Text „Das Judenauto“, der aus dem Jahr 1962 stammt und in dem die gefährliche Vorurteilshaltung indoktrinierter Kinder geschildert wird. Die Geschichte war lange umstritten und der Autor musste verschiedene Fassungen anfertigen. Heute ist sie eine verbreitete Schullektüre. Fühmann gab auch Auskunft über seinen Werdegang: vom patriotisch gesinnten sudetendeutschen Schüler, begeisterten Wehrmachtssoldaten, sowjetischem Kriegsgefangenen, der sich bewusst für die sozialistische DDR als Heimat entscheidet. Fühmann erzählte auch, dass er zahllose Briefe von Lesern bekomme, die ihn um literarische Tipps, aber auch um Lebenshilfe angingen. Und er habe jungen Leuten auch schon Selbstmordgedanken ausreden müssen. In Märkisch Buchholz, wo Franz Fühmann eine Schreibklause hatte, wollte er begraben sein, ausdrücklich nicht in Berlin. Seit 1984 ruht er hier.
Hinter der ehemaligen Dorfschule, heute Franz-Fühmann-Begegnungsstätte, findet man nach wenigen Schritten, etwas versteckt im Wald gelegen, die Reste eines jüdischen Friedhofs, der im frühen 19. Jahrhundert vom Kaufmann Max Sußmann angelegt wurde; er weist heute, nach Verwüstungen während und nach der NS-Zeit, noch 26 Grabsteine auf.
Das letzte Grab, das wir an diesem Sonntag aufsuchten, war nur mit etwas detektivischem Spürsinn zu finden, aber der eigentliche Grund für den Ausflug ins Märkische. Am 4. Oktober ist Günter de Bruyn verstorben, ein Schriftsteller, dem wir in mancher Hinsicht verbunden sind.
Der im Neuköllner Stadtteil Britz an Allerheiligen 1926 in eine dezidiert katholische Familie hineingeborene Autor ging aufs Rixdorfer Albrecht-Dürer-Gymnasium, legte in Potsdam das Notabitur ab, war Flakhelfer, Soldat, wurde verwundet. Einer kurzen Kriegsgefangenschaft folgte eine Phase als Landarbeiter, dann – nach einem Einführungskurs in einem havelländischen Dorf – die Tätigkeit als „Neulehrer“, eine Lebensstation, die für eine Reihe von DDR- Biografien prägend war. 1949 wird de Bruyn in Ost-Berlin zum Bibliothekar ausgebildet, ein Beruf, in dem er sehr erfolgreich ist. Im Jahr 1961 schließlich der Sprung in die Existenzform des freien Schriftstellers, die später dann auch die Tätigkeit im Zentralvorstand des Schriftstellerverbands der DDR (1965 bis 1978) und die Mitgliedschaft im Präsidium des PEN-Zentrums der DDR einschließen wird.
Eine akkurate Aufzählung de Bruynscher Werke wäre ob ihres Ausuferns ermüdend. Einige Beispiele: die vielgelesene Biographie Jean Pauls, die Romane „Buridans Esel“, „Preisverleihung“, „Märkische Forschungen“ (von der DEFA glanzvoll verfilmt!), „Neue Herrlichkeit“. Hinzu kommen die Parodiensammlung „Maskeraden“, Essays über deutsche Befindlichkeiten wie „Jubelschreie, Trauergesänge“, die beiden autobiographischen Bände „Zwischenbilanz“ und „Vierzig Jahre“ sowie Epochenporträts und historische Miniaturen zumeist preußischer Persönlichkeiten, etwa „Die Zeit der schweren Not“. Der Hinweis auf die zahlreichen Beschreibungen märkischer Kulturlandschaft, zum Beispiel gesammelt im Band „Mein Brandenburg“, darf nicht fehlen. Günther de Bruyn war bis in seine letzten Jahre produktiv.
Sein Grab liegt abseits, nicht allzu weit von Beeskow entfernt.