Barock und Bauhaus – mährische Weltkultur

Café ERA: Wendeltreppe von Josef Kranz (1927)

Wer von einer Sache sagt, das seien böhmische Dörfer für ihn, meint, dass ihm etwas unverständlich oder fremd ist. Die Redewendung, die die Jahrhunderte überdauert hat, stammt aus der Epoche des Habsburgerreichs, als die deutschsprachige Bevölkerung, wenn sie aufs Land fuhr, wo die tschechisch (=böhmisch) Sprechenden in der Mehrheit waren, nichts mehr verstand. Wer heutzutage davon erzählt, dass er mährische Städte bereist habe, erntet manchmal ein ähnliches Unverständnis.

Nicht nur Käse

Olmütz? Die Älteren kennen vielleicht den Olmützer Quargel, einen mageren Sauermilchkäse, der dem Harzer ähnelt, die noch Älteren mögen an den Schlager „Ausgerechnet Bananen“ aus den Zwanziger Jahren denken, in dem die Liedzeile vorkommt: „Ich hab Salat, Pflaumen und Spargel, auch Olmützer Quargel, doch ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir!“

Olomouc, wie die Stadt heute heißt, trug diesen Namen, der sich aus dem Alttschechischen für „Kahler Berg“ ableitet, schon im 12. Jahrhundert. In der denkmalgeschützten Altstadt sprechen steinerne Zeugen von der wechselvollen Geschichte, die ihre Bewohner durchlebten. Paläste und Bürgerhäuser, Klöster und Kirchen, Plätze und Brunnen bilden ein geschlossenes Ensemble, in dem der Interessierte romanische, gotische und barocke Bauformen entdeckt, der neugierige Spaziergänger aber auch einfach nur flanieren kann. Bei einer Brunnentour könnte er einen Schnellkurs „Römische Götter und Helden“ absolvieren, denn es gibt einen Jupiter-, Mars-, Merkur-, Neptun-, Herkules- und Cäsarbrunnen mit prächtigen muskelbepackten Mannsbildern in barocker Üppigkeit. Sehenswert sind auch die Kirchen, darunter der Wenzelsdom, den es eben nicht nur in Prag gibt, und die Sarkander-Kapelle, die das Leben eines Geistlichen aus dem 17. Jahrhundert dokumentiert, der im Dreißigjährigen Krieg gefoltert wurde, weil man ihm Informationen über seinen adligen Herrn entlocken wollte. Johannes Sarkander gab nichts preis, starb an den Folgen der Misshandlungen und wurde zum Patron des Beichtgeheimnisses. Die Olmützer Dreifaltigkeitssäule, als Dank für das Erlöschen der Pest im Jahr 1726 errichtet und deshalb auch Pestsäule genannt, ist seit dem Jahr 2000 Unesco-Weltkulturerbe.

Finstere Zeiten

Der Flaneur ist durstig geworden und kehrt in eines der zahlreichen Cafés am Unteren Ring ein. Beim Milchkaffee hat er Gelegenheit, die Broschüre der Touristeninformation zu studieren, die mit allerlei großen Namen aufwarten kann: Mozart schrieb hier die 6. Sinfonie und Gustav Mahler war am Mährischen Theater Kapellmeister. Doch neben all dem Glanz kann das finsterste Kapitel der Stadtgeschichte nicht unerwähnt bleiben. Nach der Abtrennung des Sudetenlandes hatte das NS-Regime 1939 die „Rest-Tschechei“ genannten Gebiete besetzt. Für Tschechen ist der Begriff „Tschechei“ bis heute Nazi-Jargon und sollte daher nicht verwendet werden. Im Jahr 1942 lebten in Olmütz 4200 Juden, von denen nur etwa 200 überlebten. Noch im März 1945 wurden 53 Personen in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. Zahlreiche Stolpersteine machen auf ihr Schicksal aufmerksam.

Der Schriftsteller Peter Härtling verbrachte als Kind einige Jahre in der Stadt. In seinem Gedicht „Olmütz 1942-45“ verarbeitet er seine Erlebnisse. Dort heißt es über eine Versammlung der Hitlerjugend auf dem Ring: „ein schwarzer aderlasser versammelt tausend hasser“; auch die entbehrungsreiche Flucht der deutschen Bevölkerung, die er als 12-Jähriger miterlebte, thematisiert er.

In der Hauptstadt

Als im Jahr 1918 die Tschechoslowakische Republik ausgerufen wird, ist diese, anders als es heutige nationale Rhetorik gern sähe, ein Staat ethnischer Vielfalt. Die Tschechen bilden mit ca. 50% Bevölkerungsanteil die Mehrheit, es folgen Deutsche, Slowaken, Ungarn und Ruthenen sowie in geringen Anteilen Rumänen, Polen und Kroaten. Im tschechischen Landesteil bleiben die historischen Länder Böhmen und Mähren erhalten, während Österreichisch-Schlesien Mähren zugeschlagen wird. Brünn, das historische  Zentrum Mährens und zweitgrößte Stadt des Landes, wird zu Brno.

Wer sich die Geschichte Brünns einmal im Zeitraffer bewusst machen will, sollte sich in die Prachtstraße begeben, die die Altstadt von Nord nach Süd durchzieht. Aus der Ferdinandstaße im Alten Österreich wurde sie 1918 zur nach dem ersten Staatspräsidenten Tomáš Masaryk benannten Masarykowa, kurzzeitig zur Hermann-Göring-Straße, dann Straße des Sieges. Jetzt ist sie wieder die Masarykova, von der aus mehrere Gassen zum Krautmarkt führen. Hier ist jeden Tag Markt: Obst, Gemüse und Blumen werden in verschwenderischer Fülle angeboten und der Gartenfreund bekommt im Frühling vorgezogene Kürbisse, Tomaten und Kräuter aller Art.

Nur wenige Schritte entfernt traf sich Gregor Mendels Wissenschaftliche Gesellschaft in den Räumen der mittelalterlichen Propstei. Im heutigen Mendelianum, das dem Besucher die Grundsätze der Vererbungslehre mit modernsten audiovisuellen Mitteln nahebringen will, kann man sich gut die Verwunderung vorstellen, die Mendels Erbsenexprimente bei den Zeitgenossen hervorgerufen haben mögen. Die Eintrittskarten erwirbt der Besucher im benachbarten Palais Dietrichstein und falls, wie bei unserem Besuch, gerade ein kräftiger Gewitterschauer niedergeht, empfiehlt sich eine Pause im direkt anschließenden Air Café, einer originell ausgestatteten Bar im englischen Stil, in der zahlreiche Erinnerungsstücke an die tschechischen Piloten erinnern, die während des Zweiten Weltkrieges bei der Royal Air Force Dienst taten.

Die weiße Moderne

Nach der Staatsgründung brummte die Wirtschaft in der mährischen Hauptstadt und es entfaltete sich eine rege Bautätigkeit. Für die jungen tschechischen Architekten, die sich vor Aufträgen nicht retten konnten, war es eine goldene Zeit. Der wohlhabende Bürger wollte nicht mehr in halbdunklen Wohnungen mit Perserteppichen und ererbtem Mobiliar wohnen. Schlichtheit, Funktionalität, Luft und Licht wurden zu Zielvorstellungen modernen Bauens. Man lud den Stararchitekten Le Corbusier zu Vorträgen an die neu gegründete Technische Universität ein und baute im Masaryk-Viertel Privathäuser nach eigenen Vorstellungen. Es sind die heute so genannten Villen der weißen Moderne: schnörkellos, mit Flachdächern und teilweise gerundeten Kanten. Parallel zum Bauhaus entsteht hier eine Bewegung, die auch bei der Gestaltung von Möbeln und Gebrauchsgegenständen dem Prinzip „Form follows function“ (Die Funktion bestimmt die Form) verpflichtet ist.

Die meisten Touristen interessieren sich indes für die eine Villa, die seit 2001 zum Weltkulturerbe gehört und von dem Deutschen Mies van der Rohe entworfen wurde. Wenn man aus dem Lužánky-Park kommt, sind zunächst die 84 Stufen der malerischen Schodova-Treppe zu erklimmen. Die Villa Tugendhat liegt nämlich auf einem Hanggrundstück und ermöglichte ihren Bewohnern somit einen Ausblick über weite Teile der Stadt. Beim Bau dieses Einfamilienhauses wurde erstmalig eine tragende Stahlkonstruktion verwendet, was völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete, z.B. die großflächige Verglasung der Gartenfront. „Man muss sich in diesem Haus bewegen, sein Rhythmus ist wie Musik“, schwärmte Grete Tugendhat, die allerdings mit ihrem Mann nur von 1930 bis 1938 dort wohnen konnte. Die jüdische Familie floh zunächst in die Schweiz, dann nach Venezuela.

Literarische Reminiszenzen

Auf dem Rückweg vom Universitätsviertel in die Altstadt lockt ein originelles Beisl im Wiener Stil zur Einkehr: Hostinec U Semináru heißt es und bietet solide Hausmannskost: Tafelspitz, Geschmorte Haxe oder Böhmische Knödel mit Speck; dazu passt natürlich ein frisches Budweiser, sei es mit oder ohne Alkohol. Ob auch die Musils hier einkehrten? Die Wohnung der Familie lag nur einen Block entfernt in der Jaselská 10.

Robert Musil verbrachte prägende Jugend- und Studentenjahre in Brünn. Die in Notizen und Tagebucheintragungen festgehaltenen Erlebnisse gestaltete er später in seinem Werk, z.B. die Affäre mit einer Tuchverkäuferin in der Novelle Tonka, das gesellschaftliche Klima in den Kreisen der Textilmagnaten im Mann ohne Eigenschaften.

Wer leichtere Kost bevorzugt, könnte sich auch mit der Roman-Trilogie des in Brünn geborenen Lutz Jahoda in die Geschichte der Stadt einlesen. Der heute in Heidesee wohnhafte über 90-jährige Fernsehstar beschreibt dort das Schicksal einer fiktiven Familie während der deutschen Besatzung. Er widmet die Bände „den nachfolgenden Generationen Deutschlands und Tschechiens, aber auch allen Bürgern in mehrsprachigen Ländern, in Hoffnung auf ein gesund zusammenwachsendes friedliches Europa“.

(Diese Reise haben wir im Mai 2018 gemacht)

 

 

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