„Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen“, schrieb Franz Kafka als 19-Jähriger. Sehr oft hat er in seinem kurzen Leben (1883-1924) die Heimatstadt nicht verlassen. Er begab sich auf Dienst- und Bildungsreisen, suchte wegen seiner Lungentuberkulose mehrfach Sanatorien auf und hielt es immerhin ein halbes Jahr in Berlin aus.
Obwohl es vermessen klingt, könnten wir uns seiner Aussage anschließen. Natürlich waren wir schon in Prag, 1971 zum Jahreswechsel, und dann wieder in einer gewandelten Atmosphäre 2002. Abermals sind einige Jahre verstrichen, die Uniformierung des europäischen Lebensstils, die sich in den Einkaufspassagen und Essgewohnheiten abbildet, ist weiter vorangeschritten, aber davon bleiben die Prachtbauten der Jahrhundertwende, der Reichtum des jüdischen Erbes, die Reminiszenzen an Künstler und Schriftsteller unberührt. Folgen wir also Kafkas Spuren und sehen, was aus seiner Lebenswelt heute noch auffindbar ist.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Um 1910 ist Prag nach Wien und Budapest die drittgrößte Stadt der österreichisch-ungarischen Monarchie und Hauptstadt des Königreichs Böhmen. Durch starke tschechische Zuwanderung ist der ehemals dominierende deutsche Bevölkerungsteil auf eine Minderheit geschrumpft, von der wiederum die Hälfte Juden sind. Egon Erwin Kisch beschreibt die Prager Deutschen so: „ Das waren fast ausschließlich Großbürger, Besitzer der Braunkohlengruben, Verwaltungsräte der Montanunternehmungen und der Skodaschen Waffenfabrik, Hopfenhändler, die zwischen Saatz und Nordamerika hin- und herfuhren, Zucker-, Textil- und Papierfabrikanten sowie Bankdirektoren; in ihrem Kreis verkehrten Professoren, höhere Offiziere und Staatsbeamte. Ein deutsches Proletariat gab es kaum.“ In diesem Umfeld von zahlungskräftigen Bürgern gedeihen Kunst und Kultur. Die deutsche Minderheit hat zwei prunkvolle Theater, ein riesiges Konzertgebäude (das noch heute existierende Rudolfinum), zwei Universitäten, zwei Tageszeitungen, höhere Schulen, Vereinsgebäude. Doch das gute Leben ist gefährdet: die Tschechen agitieren gegen die ökonomische und politische Dominanz der Deutschen, die Arbeiter gegen ihre kapitalistischen Ausbeuter, deutsch-böhmische nationalistische Studenten gegen das liberale Bürgertum.
Stationen einer Biographie
Unsere Stadterkundung beginnt schon im Hotel (Century Old Town Prague), einem Prachtbau der Gründerzeit, der einst die Arbeiter-Unfallversicherung für das Königreich Böhmen beherbergte. Hier hat der Jurist Kafka 14 Jahre lang gearbeitet. Er ist einer der drei Juden unter den 250 Beamten, deren Führungsriege deutsch ist, wohingegen die Mehrheit der Arbeitskollegen tschechisch spricht. Die Arbeitsunfälle, die er bearbeiten muss, sind den unmenschlichen Bedingungen in den Fabriken geschuldet. „Wie bescheiden diese Menschen sind, sie kommen zu uns bitten, statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen.“ Im Hotel wird die Erinnerung an den Schriftsteller gepflegt. Zu besichtigen sind eine Büste im Eingangsbereich, Schaukästen mit Schreibutensilien und persönlichen Gegenständen und das Arbeitszimmer.
Vorbei am Obecní dům, dem im Sezessionsstil erbauten Repräsentationshaus, das ein prächtiges Café, Konzertsäle und Wandgemälde des Künstlers Alfons Mucha bietet, gelangt man in kurzer Zeit zum Altstädter Ring (Staroměstké náměstí), der schon im Mittelalter das Zentrum der Stadt war. Hier kreuzten sich Handelswege, hier wurde Gericht gehalten und gefeiert. Heute ist der Platz von barocken Bürgerhäusern und Adelspalais umgeben, wird dominiert vom Altstädter Rathaus mit der berühmten astronomischen Uhr und der Teynkirche, deren Zugang zwischen zwei Lokalen verborgen liegt .
Kafka verbringt seine Kindheit und frühe Jugend in diesem Umfeld. In der Zeltnergasse (Celetná) wohnt die Familie über dem väterlichen Galanteriegeschäft (Stöcke, Schirme, Zwirn, Kurzwaren), unweit davon befinden sich das staatliche deutsche Gymnasium sowie die 1348 von Karl IV. gegründete älteste Universität Mitteleuropas. Kafka studiert dort Jura, promoviert, absolviert ein Gerichtsjahr und arbeitet zunächst in der Filiale einer italienischen Versicherung am Wenzelsplatz (Václavské náměstí).
Das jüdische Viertel
Orientiert man sich vom Altstädter Ring aus nach Norden, gelangt man in die Josefstadt, Josefov, wo sich, sozusagen im Schatten der Prager Burg, seit 1150 Juden ansiedelten. Wer aber mittelalterliche Gässchen und geduckte Häuser erwartet, wird angesichts der breiten und eleganten Boulevards erstaunt sein. Nach der Revolution von 1848 hatte der Kaiser den Juden das volle Bürgerrecht zuerkannt, woraufhin die Wohlhabenden unter ihnen in andere Stadtviertel umsiedelten und das Viertel mehr oder weniger verkam. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde nach dem Vorbild von Paris großräumig abgerissen und neu gebaut. So wundert es nicht, dass die Prachtstraße, die vom Altstädter Ring zur Moldau führt, Pařižská heißt und mit luxuriösen Modegeschäften aufwartet. Fünf Synagogen liegen in diesem Stadtteil, von denen vier heute zum Jüdischen Museum gehören und Ausstellungen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten zeigen. Anders die Altneusynagoge, ein frühgotischer Bau des 13. Jahrhunderts, die als älteste in Europa noch als Gotteshaus genutzt wird, weshalb männliche Besucher eine Kopfbedeckung tragen sollten. Obwohl sein Verhältnis zum Judentum ambivalent war, besuchte Kafka hier oft den Gottesdienst. Unweit der Spanischen Synagoge hat man dem Schriftsteller im Jahr 2003 ein Denkmal errichtet. Die Bronzestatue des Bildhauers Jaroslav Róna zeigt eine kleine Figur, die auf den Schultern einer körperlosen Hülle reitet, eine Szene aus der Novelle „Beschreibung eines Kampfes“ (siehe oben).
Kaffeehauskultur
Kafkas Arbeitszeit bei der Arbeiter- und Unfallversicherung umfasste 6 ½ Stunden täglich von Montag bis Samstag, so dass Zeit blieb für Spaziergänge, Kaffeehausbesuche und Diskussionen mit Freunden. Wir stehen eher zufällig plötzlich vor der Kavárna Louvre, steigen auf der Marmortreppe hinauf in den ersten Stock und lassen uns in einem der eleganten, hohen Räume vom Kellner ein Tischchen zuweisen. Nebenan wird Billard gespielt, wie schon bei der Eröffnung im Jahr 1902. Prags Kaffeehauskultur (es seien als Beispiele noch das Slavia, das Europa, das Grand Café Oriental genannt) braucht den Vergleich mit Wien nicht zu scheuen. Kafka besuchte hier gelegentlich den philosophischen Zirkel der Anhänger Franz Brentanos, traf aber auch den Freund Max Brod. Man las sich gegenseitig aus den eigenen Werken vor. Dass dies nicht immer vollkommen harmonisch war, ergibt sich aus dem folgenden Tagebucheintrag: „Max hat mir den ersten Akt des ‚Abschieds von der Jugend‘ vorgelesen. Wie kann ich so, wie ich heute bin, diesem beikommen; ein Jahr müßte ich suchen, ehe ich ein wahres Gefühl in mir fände, und soll im Kaffeehaus spät am Abend, von verlaufenen Winden einer trotz allem schlechten Verdauung geplagt, einem so großen Werk gegenüber irgendwie berechtigt auf meinem Sessel sitzen bleiben dürfen.“
Ein weiteres Lieblingscafé der Literaten, darunter Franz Werfel und Egon Erwin Kisch, war das Arco. Hier lernte Kafka die Journalistin Milena Jesenska kennen, die seine Werke ins Tschechische übersetzte. Seine „Briefe an Milena“ sind das Dokument einer schwierigen Liebesbeziehung. Heute werden die Räumlichkeiten als Kantine der nahe gelegenen Polizeizentrale genutzt. Angesichts der schwer bewaffneten Uniformträger, die uns entgegenkommen, verzichten wir auf einen Besuch und betrachten nur die historischen Fotos im Schaufenster.
Franz Kafka starb nach langem Leiden am 3. Juni 1924 in einem Sanatorium bei Wien. Nach der Überführung seiner sterblichen Überreste wurde er auf dem Neuen Jüdischen Friedhof beigesetzt, der heute nahe der Metrostation Želivského liegt. Den kubistischen Grabstein schuf der Architekt Leopold Ehrmann. Abgelegte Steinchen und Blumen deuten darauf hin, dass einige Literaturfreunde hierher gefunden haben.
„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ Klaus Wagenbachs wunderbares Buch Kafkas Prag war uns ein Wegweiser, aber auch die mit viel Engagement gemachte Website www.kafka-prag.de.