„Ein ritter sô gelêret was, daz er an den buochen las …“. So beginnt das kurze Versepos des Hartmann von Aue, das er noch vor Ende des 12. Jahrhunderts verfasst hat: Der arme Heinrich. Interessant, dass Lesekompetenz offenbar nicht unbedingt Teil des ritterlichen Tugendkatalogs war. Die kleine legendenhafte Dichtung schildert das Schicksal eines wohl süddeutschen Ritters, der an Aussatz, also Lepra, erkrankt und nur durch das Blut einer sich freiwillig opfernden Jungfrau geheilt werden kann. Die findet er, sie ziehen zur medizinischen Hochschule in Salerno, wo ein Arzt das Opfer vollziehen soll…
Im letzten Moment, die Instrumente liegen bereit, blickt der arme Heinrich ins Operationszimmer, die Schönheit der Opferwilligen bringt ihm die Ungeheuerlichkeit des ganzen Vorhabens zu Bewusstsein, er bricht den Vorgang ab. Heinrich akzeptiert jetzt seinen Aussatz als gottgeben. Schon auf der Heimreise wird Heinrich gesund durch göttliche Intervention. Zuhause heiratet er das Mädchen, ein Happy End, das auf die ewige Seligkeit für beide Protagonisten vorausdeutet.
Ein Wissenschaftsstandort
Salerno war also schon im Hochmittelalter ein Reiseziel, vor allem die Scuola Medica Salernitana. Diese medizinische Lehr- und Forschungsanstalt war die erste universitätsartige Institution Europas. Nicht nur durch die Medizin erwarb die Hochschule ihren Ruf, auch die Pharmazie war von großer Bedeutung. So wurden die Grundlagen für einen eigenen Apothekerstand geschaffen. Kaiser Friedrich II. legte mit dem Edikt von Salerno die Trennung von Arzt- und Apothekerwesen gesetzlich fest. Leider war das in einer Kirche untergebrachte Museo Didattico della Scuola Medica Salernitana bei unserem Stadtbesuch pandemiebedingt geschlossen.
Mehr als ein Ersatz war der Giardino della Minerva, hoch in der westlichen Altstadt gelegen blickt er aufs Meer. Die Anlage ist eine Rekonstruktion eines mittelalterlichen Heilpflanzengartens der Scuola Medica. Bekannte und weniger bekannte Arzneipflanzen wachsen auf mehreren Ebenen in Beeten mit je nach Pflanze wuchsförderndem Substrat. Sträucher und kleinere Bäumen spenden Schatten. Brunnen und Wasserleitungen regulieren die Feuchtigkeitszufuhr. Noch Anfang November ist viel Grün zu betrachten, ein Besuch der Anlage lohnt wohl besonders im Frühling.
Ein Arzneigarten
Eintrittskarten erwerben die Besucher an einer kleinen Kasse, nachdem sie sich vorsichtig an einem gutgefüllten Napf mit Katzenfutter nebst einer felinen Konsumentin vorbeigedrückt haben. Später fanden sich in der unmittelbaren Umgebung des Giardino noch etliche weitere Katzen. In drei kleinen Räumen kann man Exponate zur Geschichte der Hochschule betrachten. Eine längere Videopräsentation in italienischer Sprache mit englischen Untertiteln informiert über die hier betriebene mittelalterliche Forschung und Lehre. Der arabische Kultureinfluss, der für die salernitanische Wissenschaft Voraussetzung war, wird gewürdigt. Vor allem kommen auch die hier tätigen Frauen zu ihrem Recht. Eine von ihnen war Trotola, als praktische Ärztin Mitglied der Fakultät von Salerno. Sie schrieb mehrere Abhandlungen über die praktische Heilkunst und soll zur medizinischen Enzyklopädie Practica Brevis beigetragen haben. Medizinhistoriker außerhalb Italiens haben Trotolas Leistung bezweifelt, sogar ihre Existenz bezweifelt. Ihre italienischen Kollegen hingegen gingen schon immer von ihrer Authentizität aus und wiesen früh nach, dass es im 12./13. Jahrhundert neben Trotola in Salerno weitere Dozentinnen (und Studentinnen) gab: Abella, Rebecca de Guarna, Constanzia Calenda …
Wie alles anfing
Eine 1515 gedruckte herzerwärmende Entstehungslegende der Schule von Salerno, überliefert von dem Lyoner Arzt Andreas Turinus, hält deren konfessionsübergreifende Gründung fest:
„Ein griechischer Pilger namens Pontus suchte während eines Sturms Unterschlupf unter den Bögen des Aquädukts zur Übernachtung. Ein zweiter Mann, Salernus, ein Latiner, rastete an der gleichen Stelle. Salernus war verletzt und behandelte seine Wunde, wobei er und seine Medikamente genau von Pontus beobachtet wurden. In der Zwischenzeit waren zwei weitere Reisende, der Jude Helinus und der Araber Adela hinzugekommen.Die vier kamen überein, eine Schule zu gründen, in der ihre Kenntnisse gesammelt und verbreitet werden sollten.“
Stippvisite in der Altstadt
Auf dem Weg zum Giardino della Minerva war uns der Duomo di San Matteo einen Besuch wert gewesen, ein vom Normannen Robert Guiscard veranlasster, 1085 abgeschlossener romanischer Kirchenbau. Im großen Vorhof der Kirche stand am Rand ein Paar, das sich als Braut und Brautvater entpuppte. Ein aufgeregter Fotograf näherte sich ihnen panisch und rief sie in die Kirche. Der Vater lehnte ab und zückte sein Cellulino, um noch irgendetwas zu regeln. Fehlte der Bräutigam, war eine wichtige Persönlichkeit noch nicht eingetroffen? Wir betraten den Dom, der festlich gekleidete Mädchenchor hatte offensichtlich seine Probe beendet und wartete auf den Einzug der Hauptpersonen. Wir studierten derweil den Aufbewahrungsort der Gebeine des heiliggesprochenen Papstes Gregor VII., Gegenspieler und Canossagangerzwinger Kaiser Heinrichs des Vierten. Gregor war 1085 in Salerno gestorben. Als wir dann in die Betrachtung der Apsismosaiken mit Szenen aus dem Leben des Hl. Matthäus versunken waren, begann der Chor seinen Festgesang, Brautvater und Braut schritten würdig durchs Hauptschiff, der Fotograf konnte seinen Auftrag erfüllen. Den Brautleuten alles Gute.
Nach der Erkundung der oberen Altstadt brachte uns ein öffentlicher Lift fast auf Meereshöhe. Der Ausstieg führte gleich in ein kleines Viertel, in dem ein ganzer Platz von Hausfassaden umstanden war, die sämtlich mit Gedichtzeilen verziert waren. Ein Dichter hatte dieses Projekt angeregt und die Stadt hatte die Umsetzung ermöglicht.
Der aktuelle Bädeker „Golf von Neapel“ gönnt Salerno keinen Stern, rät aber auch nicht ausdrücklich von einem Besuch der Stadt. Für Leute, die sich für die komplizierte Geschichte Süditaliens interessieren, ist er empfehlenswert wegen der wechselhaften Besiedlungen, der vielfältigen Kultureinflüsse, der alten wie modernen Architektur.