Angereist waren wir zum 92. Geburtstag eines Verwandten, aber es ergab sich, dass zur gleichen Zeit das Bayreuth Baroque Festival im Markgräflichen Opernhaus (Weltkulturerbe!) stattfand. Wir sahen Carlo il Calvo von Nicola Antonio Porpora, inszeniert von Max Emanuel Cenčić. Der Countertenor hat 2020 das Festival zusammen mit dem Kulturmanager Clemens Lukas ins Leben gerufen und sang selbst den Lottario, laut Bayrischem Rundfunk „mit hysterischem Pathos“, was anerkennend gemeint war. Überhaupt war die Resonanz in den Medien sehr positiv.
Die Handlung der Oper ist etwas verworren; es geht um die Thronfolge nach dem Tod Ludwigs des Frommen; Intrigen werden geschmiedet, Spione ausgesandt, Gerüchte verbreitet. Die Handlung ist 840 im Fränkischen Reich angesiedelt. Bei der Uraufführung der Oper 1738 sangen nur Männer und Kastraten, denn auf Weisung des Papstes durften Frauen in Rom nicht öffentlich auftreten.
Heute übernehmen Countertenöre die männlichen Rollen; nur der Bösewicht ist Bariton. Wer noch nie Männer in Falsett-Technik singen gehört hat, kann hier mal reinhören. Neben diesem wirklich überwältigenden Hörerlebnis war die Inszenierung eine Wucht; sie ist im Internetportal Forumopera zur besten Neuproduktion 2020 gekürt worden. Cenčić: „Die Geschichte ist total verrückt, es ist so eine Art Telenovela, wo sich eine Familie um das Erbe streitet. Der Haupterbe ist ein kleines Kind, und der Halbbruder will ihn umbringen und entführt ihn, die Mutter flippt aus,“. Insoweit ist die Verlegung der Handlung ins kubanische Drogenclan-Milieu der 20er Jahre ein Coup, der gelingt. Auf der üppig dekorierten Bühne entfaltet sich ein furioses Spektakel, an dem die 18 Statisten nicht unerheblichen Anteil haben: durchtrainiertes Security-Personal, herumhuschende Hausmädchen, plaudernde Damen und Herren der Gesellschaft; es wird gegessen, getrunken, geraucht (Havanas natürlich), Charleston getanzt und pantomimisch für Unterhaltung gesorgt. Die 5 Stunden (inkl. Pausen) vergingen wie im Flug. Im Bild Max Emanuel Cenčić, der sich seinen verdienten Applaus abholt:
Am nächsten Tag spazierten wir zu dem Operngiganten, der eher mit Bayreuth assoziiert wird: Villa Wahnfried, Grab, Festspielhaus. Rund um die von Arno Breker geschaffene Büste Richard Wagners hat man eine ständige Ausstellung errichtet, in der dokumentiert wird, wie jüdische Dirigenten, Sänger und Sängerinnen systematisch aus dem Bayreuther Opernbetrieb ausgeschlossen wurden. Aber dieses Thema verdient eine ausführliche Berichterstattung, für die heute die Zeit fehlt.