Sommerfrische der Literaten

Für unseren Abreisetag war betörendes Spätsommerwetter angesagt. Also verlängerten wir den Aufenthalt um eine Nacht und fuhren an die Ostsee. Wegen der guten Erreichbarkeit und weil wir es noch nicht kannten, fiel die Wahl auf Graal-Müritz, das, wie der Name vermuten lässt,  aus zwei Orten besteht. Der ältere ist Müritz, im Slawischen „Gegend am Meer“ bedeutend, und kann auf eine lange Tradition als Badeort zurückblicken: Seit 1820 tummelte man sich hier am Strand, ab 1880 konnten die betuchten Kreise im Luxushotel „Anastasia“ logieren. Graal  hieß eigentlich „Ort des Gral“, war aber nicht Schauplatz der Artus-Legende, sondern nach einem Verpächter von Grundstücken benannt. 1938 wurden die beiden Orte zwangsvereinigt. Ob das ohne Anwohnerproteste durchging, ist uns nicht bekannt. Vielleicht hatte man 1938 auch andere Sorgen.

Nach einem Gang zur Seebrücke und kurzer Einkehr in einer Eisdiele steuerten wir die Touristeninformation an und fanden dort – ganz unerwartet – eine gut gemachte Broschüre „Literarisches Graal-Müritz“ nebst einem Lageplan, der zum Spaziergang durch das Villenviertel einlud. Musil, Fallada, Kästner, Kerr, Kempowski – um nur die bekanntesten Schriftsteller zu nennen, haben sich hier erholt, sich verliebt und darüber geschrieben.

Wie ein Roman liest sich Robert Musils Anreise nach Graal-Müritz. Er hatte 1906 schon Die Verwirrungen des Zöglings Törleß veröffentlicht und war mit dem Zug unterwegs. Auf der Strecke von Berlin nach Rostock wurde der 26-Jährige auf eine Frau mit zwei Kindern aufmerksam. Er verliebte sich auf der Stelle, folgte der jungen Frau, stieg wie sie in Rostock in den Zug nach Stralsund um, dann in Rövershagen aus. Ja, er folgte ihr bis ins Waldhotel. Es ist anzunehmen, dass diese Verfolgung nicht gegen den Willen der Dame erfolgte, denn wenige Tage später verlobten sich Martha Marcovaldi und Robert Musil, 1911 heirateten sie. Und das Waldhotel gibt es immer noch!

Für Hans Fallada waren es unbeschwerte Wochen, die er als Kind an der Ostsee verbrachte. In Damals bei uns daheim heißt es: „Nein, wie eilig flogen die Ferientage dahin. Kaum waren wir erst so recht aufgestanden, so mussten wir schon wieder ins Bett! Nun wurden schon die Blaubeeren reif. Aus dem Walde kamen wir mit schwarzen Mündern heim und mit Flecken in unsern weißen oder weiß-blau gestreiften  Sommerblusen, über die Mutter schalt. Und dann gab es nach ein paar Regentagen Pilze über Pilze.“

Für ein Seebad eher ungewöhnlich, verfügt Graal-Müritz über einen ausgedehnten Tannen- und Kiefernwald, der sich bis zum Strand erstreckt. So warb man 1891: „Die urewige Melodie des Meeres findet sich hier gepaart mit dem Rauschen des Waldes … Seeluft und Waldluft, dazu einfaches, ungezwungenes Badeleben, das sind die Magneten, welche von Jahr zu Jahr einen stärkeren Besuch hierherziehen“. Die Bezeichnung „einfach und ungezwungen“ ist natürlich relativ, aber damals fuhr die High Society nach Heiligendamm und noch heute trifft man auf ein anderes Publikum als in Binz oder Ahlbeck.

Erich Kästner kam mit fünfzehn zum ersten Mal nach Müritz. In seinen Kindheitserinnerungen Als ich ein kleiner Junge war, beschreibt er seine Ankunft so: „Eine Stunde später stand ich, vom Strandhafer zerkratzt, zwischen den Dünen und sah aufs Meer hinaus. Auf diesen atemberaubend grenzenlosen Spiegel aus Flaschengrün und mancherlei Blau und Silberglanz“. Unvergesslich blieben ihm die Nächte: „Über unseren Köpfen funkelten und zwinkerten viel mehr Sterne als daheim, und sie leuchteten königlicher. Der Mondschein lag wie ein Silberteppich auf dem Wasser.“ Doch neben der Erhabenheit der Naturphänomene bemerkt der Autor, sei es als Heranwachsender oder Jahrzehnte später bei der Niederschrift, schon gewisse Eigenheiten des Massentourismus. „Man war den Städten entflohen und hockte jetzt, angesichts der Unendlichkeit, noch viel enger nebeneinander als in Hamburg, Dresden und Berlin. Man quetschte sich auf einem Eckchen Strand laut und schwitzend zusammen wie in einem Viehwagen. Links und rechts davon war der Strand leer. Die Dünen waren leer. Die Wälder und die Heide waren leer. (…) Der Mensch glich dem Schaf und trat in Herden auf.“ Und das im Jahr 1914!

Alfred Kerr, der Weimarer Theaterkritiker, kam mehrmals mit dem Rad an die Ostsee. „Man sieht mehr von einem Land, wenn man auf dem Rade sitzt – das steht fest. Man macht in allerhand Ortschaften halt und guckt sich um, wo sonst niemand hinkommt“. Schließlich gelangte er über Rövershagen nach „Graal, waldbegraben, an einer reinlich-frischen Brandung, (…) Diese Akazienblütendüfte neben Wald- und Salzluft. Scheint mir das schönste Ostseefleckchen. Im Seeschloss geblieben. Ein alter Segelkapitän; ein früherer Landmann, zur Ruh gesetzt. Mädel. Hier will ich bleiben. Abends spät Spaziergang nach Müritz – auf der Landstraße…am Friedhof vorbei. Stets dieser schwere Baumduft wundersam. Wiesen. Alte rohrgedeckte Bauernhäuser“.

Walter Kempowski hatte eine besondere Beziehung zu Graal-Müritz, denn seine Eltern hatten sich im Sommer 1913 auf der Seebrücke kennengelernt. Später reisten sie mehrmals mit den Kindern an, wohnten in unterschiedlichen Pensionen. Einen Ausflug beschreibt er folgendermaßen: „Schließlich erreichen sie das Meer, wie dumme Leute sagen. Die See also, wie es richtig heißt. Man erreicht sie bei Graal, das am Ende der langen Schneise liegt. Durch das Rauschen hat sich das Meer schon vorbereitend angekündigt. Von einer Düne aus wird es dann in Augenschein genommen, den Damen flattern die Haare, den Herren die Schlipse. (…) Die Gesellschaft lässt sich in der Strandperle nieder, vor der eine Blutbuche steht, und bestellt Schollen, die in dieser Jahreszeit so ganz besonders gut sind, und vor allem: ein kühles Bier. Ahh!“ Die Strandperle gibt es immer noch, Schollen liegen tiefgekühlt bereit und werden ganzjährig serviert. Leider ist das Bier ein wenig teurer geworden.

Anders als die zuvor Genannten kam Kurt Tucholsky nach Graal, als er schon relativ berühmt war. Das 1912 veröffentlichte Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte hatte sich gut verkauft. Tucholsky heiratete 1920 Else Weil, das Vorbild für die Romanfigur Claire, und das Brautpaar fuhr auf Hochzeitsreise nach Graal. Dort wohnten sie in der Pension Buchenhof, wo sich heute das Heimatmuseum befindet.

Drei Jahre später reiste Franz Kafka nach Müritz und fand dort seine letzte große Liebe. Kafka war schwer an Lungentuberkulose erkrankt und im Sommer 1923 in keinem guten Zustand. Dennoch trat er mit seiner Schwester und deren beiden Kindern die anstrengende Reise an. Gegenüber ihrer Pension Glückauf befand sich  Haus Huter, eine Ferienanlage des Jüdischen Volksheims Berlin. Am 13. Juli 1923 geht er zur Sabbatfeier hinüber und lernt die 19jährige Dora Diamant kennen. „Dann trat er ein – ich wusste nicht, dass es Kafka war und dass die Frau, mit der ich ihn am Strande zusammen gesehen hatte, seine Schwester war. Er sagte mit sanfter Stimme: ‚So zarte Hände, und sie müssen so blutige Arbeit verrichten‘.“ Kafka verließ um Doras willen, die er „ein wunderbares Wesen“ nannte, sein vertrautes Prag  und zog nach Berlin, wo er in Steglitz, sie im Scheunenviertel wohnte. Die gemeinsame Zeit dauerte von September 1923 bis März 1924. Dora: „Kafka war immer heiter. Er spielte gern, er war der geborene Spielkamerad, der immer zu irgendwelchen Späßen aufgelegt ist. Ich glaube nicht, dass Depressionen sein hervorstechendes Merkmal waren“. Kafkas Zustand verschlechterte sich; er musste ein Sanatorium aufsuchen und starb dort  im Juni 1924; Dora Diamant emigrierte rechtzeitig und lebte bis 1952 in London.

(Alle Textzitate und Details entnahmen wir der informativen Schrift „Literarisches Graal-Müritz“, herausgegeben von der Tourismus- und Kur GmbH Graal-Müritz)

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