Fern von Gebildeten…

…am Ende des Reichs: Oberschlesien stimmt ab. 

Die kalendarische Wiederkehr eines historischen Ereignisses lenkt die Aufmerksamkeit auf Vergangenes, das sich in voneinander abweichenden Geschichtserzählungen erhalten hat. Als Erinnerungsanlass ist das oberschlesische Plebiszit vom 20. März 1921 ein gutes Beispiel für konkurrierende, sich fortentwickelnde Deutungen. Die Überschrift bedient sich auszugsweise eines Epigramms von J.W. von Goethe, das er der Knappschaft von Tarnowitz im September 1804 verehrte und das den Landstrich, in dem er sich befand, freundlich, aber mit leichter Befremdung, vielleicht Herablassung charakterisiert: Oberschlesien.


Eine europäische Region

Geschichtsunterricht auf dem Straßenschild

Heute können nähere Kenntnisse über ein zeitweiliges Territorium des Heiligen Römischen Reichs, dann preußische Provinz und seit 1945 Gebiet zweier polnischer Woiwodschaften (Opole und Śląsk) nicht vorausgesetzt werden. Daher in sehr groben Strichen einige Hinweise.
Oberschlesien (O.S.) beginnt im Oppelner Land südlich von Breslau und endet bei Bielsko-Biała rund 60 km südlich der oberschlesischen Kapitale Kattowitz. Auch wenn O.S. schon seit dem Vertrag von Trentschin (1335) böhmisches Herrschaftsgebiet war, blieb die polnische Bevölkerung. Zu ihr gesellten sich die schon von den schlesisch-polnischen Piasten ins Land gerufenen deutschen Einwanderer. Die sich daraus entwickelnde Zweisprachigkeit ist neben der konfessionellen Bindung (die Oberschlesier brauchten aufgrund der habsburgische Herrschaft von 1526 bis 1740 ihren katholischen Glauben nicht aufzugeben) d a s unterscheidende Merkmal zwischen Nieder- und Oberschlesien. Mit der Zeit bildete sich in O.S. das Wasserpolnische, ein polnischer Dialekt, als Gebrauchssprache heraus, die vom Hochpolnischen abweicht und zahlreiche Wörter aus dem Deutschen entlehnt hat.
Vornehmlich im 18./19. Jh. erlebte O.S. einen wirtschaftlichen Aufschwung, an dem die Arbeitermassen kaum partizipierten. Der Bergbau wurde intensiviert, die Hüttenindustrie auf- und ausgebaut. Viele polnische Arbeiter zogen zu, wurden aber durch die preußische (lange Jahre von Bismarck verantwortete) Politik an ihrer kulturellen Entfaltung gehindert; der öffentliche Gebrauch der polnischen Sprache wurde eingeschränkt, die katholische Kirche bekämpft, der Protestantismus, die Religion der Verwaltungselite, vorgezogen. Kein Wunder, dass bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das katholische Zentrum die stärkste politische Kraft in O.S. war.

Denkmal der polnischen Aufständischen in Kattowitz

Das Plebiszit

Der Staat Polen musste sich infolge der Teilungen im 18. Jh. nach dem ersten Weltkrieg neu aufbauen. Eben noch hatten polnische Oberschlesier in der österreichischen, preußischen oder russischen Armee gedient, jetzt hatten sie die Möglichkeit, sich der neu gegründeten Republik Polen anzuschließen. Die „Selbstbestimmung der Völker“, von Woodrow Wilson propagiert, sollte der Unterdrückung kleinerer Nationen ein Ende setzen. Wo „gemischte Bevölkerungen“ existierten, schienen Volksabstimmungen das beste Mittel, um Territorien endlich gerecht neu aufzuteilen. Gemäß den Regelungen des Versailler Vertrags, Artikel 88, fanden zunächst in Teilen Ost- und Westpreußens Plebiszite statt, bei denen sich jeweils mehr als 90 % der Befragten für den Verbleib im Deutschen Reich entschieden. Die Abstimmung für Oberschlesien wurde auf den 20. März 1921 gelegt.

Quelle: Wikipedia

Quelle: Wikipedia

Nun begannen in Polen wie in Deutschland intensive Kampagnen für die Stimmabgabe im nationalen Interesse. Publikationen wie die polnische Zeitschrift Kocynder schürten Hass gegen Deutschland. Das als deutsche Antwort agierende Satireblatt Pieron, bei dem Kurt Tucholsky Redakteur war, förderte antipolnische Ressentiments. Die Kontrahenten versuchten auch den anderssprachigen Bevölkerungsteil zu erreichen, und Polen wie Deutsche druckten Plakate in der Fremdsprache. Diese hitzige Zeit vor der Abstimmung wurde punktiert von zwei polnischen Bild (1919, 1920) Aufständen, die das Ziel hatten, vollendete Tatsachen zu schaffen. Ideologischer Wegbereiter und Organisator war Wojciech Korfanty, der als Vertreter der oberschlesischen Polen 1903 und 1907 im Wahlkreis Kattowitz-Zabrze in die polnische Fraktion des Deutschen Reichstags gewählt worden war. 1918 wieder Abgeordneter focht er für den Anschluss polnischsprachiger Gebiete an Polen.

Neben die publizistische Front trat die paramilitärische. Deutsche Freikorps und polnische Milizen waren früh im Abstimmungsgebiet aktiv. Es gab Übergriffe, Entführungen, Terroranschläge, die Erschießung von Streikenden. Als am 11. Februar 1920 die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission für Oberschlesien unter dem französischen General Henri Le Rond in Oppeln die Verwaltung der Abstimmungszone übernahm, trat keine Beruhigung ein. Um eine ordnungsgemäße Abwicklung des Plebiszits zu sichern, wurden britische, französische und italienische Truppen nach O.S. verlegt. Damit ähnelte das Gebiet fast einem Staat, eigene Briefmarken und besondere Ausweise inklusive. Nach Ansicht vieler Deutschsprachiger, aber auch im Urteil späterer Historiker favorisierten die Franzosen die Polen, die Briten galten als fair, die Italiener als neutral bis desinteressiert. Der Tag der Abstimmung verlief relativ ruhig.

Die Entscheidung

Das Resultat war anders als in Ostpreußen. Gefördert durch Massentransporte von Oberschlesiern, die in fernen Teilen des Reichs lebten, aber wahlberechtigt waren, und eine ähnlichen Mobilisierung in Polen, betrug die Wahlbeteiligung fast 98 %. 59,6 % der Stimmen entfielen auf Deutschland, 40,4 % auf Polen. Ein klares Ergebnis, sollte man meinen. Grosso modo stimmte die Landbevölkerung für Polen, die Stadtbewohner für Deutschland. So votierten in Kattowitz 85,4 %, in Beuthen 74,6 % für Deutschland. Satte Mehrheiten. Aber der Landkreis Beuthen sah eine polnische Mehrheit von 59,0 %, und Kattowitz Land eine solche von 55,5%. Wie also mit dem nur scheinbar klaren Ergebnis umgehen? Deutschland erwartete den Verbleib Gesamtoberschlesiens beim Reich. Alles andere wäre ungerecht. Wie würden die Alliierten entscheiden? Hatten sie eigene Interessen? Im deutsch-orientierten O.S. setzte man auf die Briten. Hatte der britische Premierminister Gladstone nicht bereits am 22. März 1921 erklärt, das ganze O.S. solle deutsch bleiben, er wolle keine Teilung, aber: „Ich habe den Eindruck, dass die Franzosen weitgehende Verpflichtungen gegenüber Polen übernommen haben.“

  Jetzt betrieb Korfanty mit dem dritten polnischen Aufstand eine Gewaltlösung. Das misslang am symbolträchtigen Annaberg, dessen Einnahme das Freikorps Oberland im Verein mit dem oberschlesischen Selbstschutz verhinderte. Der Oberste Rat, das Führungsorgan der Pariser Friedenskonferenz fasste keinen Teilungsbeschluss. Am Ende schlug der Völkerbundsrat die Ziehung einer Grenze vor, die mitten durch das Industriegebiet führte. Der Oberste Rat wiederum folgte dem ohne Einwände .
Damit musste Deutschland den wirtschaftlich wertvollsten und dichtest-besiedelten Teil der Provinz ohne Rücksicht auf konkrete Stimmverhältnisse abtreten: knapp ein Drittel des Territoriums und fast die Hälfte der Bevölkerung. Polen erhielt 85 Prozent der Kohlevorräte und 75 Prozent der Industrieanlagen wie Zinkhütten, Stahl- und Walzwerke. Die neue Grenze zertrennte Gruben, Bahnlinien, Landstraßen. Mitglieder vieler Familien befanden sich plötzlich in unterschiedlichen Ländern. Kattowitz stieg in der Folge zur Metropole der polnisch-autonomen Provinz Ost-Oberschlesien auf.

Die Wunde Oberschlesien bot den nationalistischen Kräften der Weimarer Republik ein willkommenes Propagandathema. Was das Plebiszit 1921 nicht erreichte: das Verschwinden der ethnischen Durchmischung! 1945 schließlich bedurfte es keines Plebiszits mehr, um eine Entmischung herbeizuführen.

Quelle: Wikipedia

Der besondere Charakter des schwebenden Volkstums in O.S. wurde seither wenig erforscht. Dabei waren beim Plebiszit viele Autochthone in ihrem Abstimmungsverhalten nicht den von außen kommenden nationalistischen Einflüsterern gefolgt. Seit 1990 gibt es erneut Forderungen nach einer oberschlesischen Autonomie. Deren Befürworter versuchen an ein ausgeprägtes Regionalbewusstsein anzuknüpfen und streben nach einer gewissen kulturellen Unabhängigkeit innerhalb des polnischen Staats. Ist die Wunde Oberschlesien etwa doch noch nicht völlig vernarbt?

Ein Gedanke zu „Fern von Gebildeten…

  1. Danke für den Artikel. Auffällig, dass in der heutigen Welt kein nennenswertes mediales Interesse für ein historisch bedeutsames Ereignis besteht, jedenfalls nicht in Deutschland. Dabei hatte die Volksabstimmung in Oberschlesien erhebliche Auswirkungen auf die mitteleuropäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.

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