In Zeiten, da das papierlose Büro, die kreidefreie Smartboard-Schule, die digitale Zeitungslektüre alltäglich werden und die Druckerzeugnisse der Gutenberg-Zeitalters von der Turing-Galaxie in ihr digitales Archiv übernommen werden, soll hier an Karl Kraus erinnert werden: Moralist, Berserker, Sprachkünstler, Sprachdiener, Sprachkritiker.
Randständig und singulär
Im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts entschließt er sich nach erfolglosen Bemühungen, Schauspieler zu werden, zur Schriftstellerei. Seine frühen journalistischen Arbeiten verwirft er und bezeichnet sich nun als Publicist. In der kleinen Schrift Die demolirte Litteratur (1897) rechnet er mit der Künstlerbohème des Café Griensteidl ab. Das trägt ihm nicht nur die Aufkündigung von Freundschaften ein, sondern auch Schläge. Aber Kraus lässt sich nicht beirren. Vielmehr gründet er 1899 die Zeitschrift Die Fackel, die dreimal monatlich erscheint, in der zunächst auch Beiträge anderer Autoren gedruckt werden (z.B. Detlev von Liliencron, Else Lasker-Schüler, Wilhelm Liebknecht, Franz Mehring, Erich Mühsam, August Strindberg). Ab 1911 schreibt Kraus sämtliche Artikel ganz allein, fast immer nachts. Insgesamt erscheinen über 900 Nummern.
Karl Kraus stammte aus Nordböhmen. 1874 in Gitschin (Jičín) geboren, verbringt er den größten Teil seiner Schulzeit in Wien, wo er noch vor dem Abitur erste Texte in Zeitungen veröffentlicht. Sein Vater, der jüdische Papierfabrikant Jacob Kraus, ermuntert ihn zum Jurastudium. Bald wechselt Karl die Fakultät und hört Philosophie und Germanistik. Ende 1899 tritt er aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus. Im Jahr darauf stirbt der Vater. Die jüdische Herkunft ist für Kraus kulturell sekundär, er spricht sich für vollständige Assimilation aus, lehnt den Zionismus ab, kritisiert aber zugleich den verbreiteten Antisemitismus.
Kraus ist ein ausgesprochener Polemiker, der die korrupte, liberale Wiener Presse seiner Zeit, insbesondere die Neue Freie Presse bekämpft. Er wendet sich besonders gegen das geschmäcklerische Feuilleton, das mit gefühligen Stimmungsbildern gesellschaftliche Probleme übertüncht: „Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen.“ Seine Themen hat er nun gefunden: die Sexualmoral und Frauenfeindlichkeit der Epoche, dazu den grassierenden kleingeistigen Chauvinismus im Habsburger Reich und schließlich die Käuflichkeit, Gewissenlosigkeit und Frechheit der Journaille. In vielen Aphorismen formuliert er seinen Ekel: „Der Historiker ist nicht immer ein rückwärts gekehrter Prophet, aber der Journalist ist immer einer, der nachher alles vorher gewusst hat.“ Oder auch: „Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können – das macht den Journalisten.“
Erledigungen
Es verwundert nicht, dass Kraus ständig in Prozesse verwickelt war. Entweder wandte er sich an die Gerichte, weil er beleidigt worden war, oder Personen, die sich von ihm verunglimpft fühlten, brachten ihn vor den Richter. Mit den bekannten deutschen Kritikern Maximilian Harden und Alfred Kerr setzte er sich publizistisch und juristisch auseinander; letzterem hielt er in scharfer Form dessen nationalistischen Kriegsgedichte vor, ersterem dessen homophobe Skandalisierung von Vorfällen am Hof der Hohenzollern.
Karl Kraus ist ein leidenschaftlicher Ankläger des Kriegs. Sein Hass auf die Presse, die sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs vorbehaltlos in den Dienst der nationalen Propaganda stellt, vertieft sich. Mehrmals werden Beiträge der Fackel teilweise oder ganz zensiert. Kraus attackiert die Frontberichterstatter/innen und ihre Zeitungen, die parteiisch und manchmal geradezu frivol das Kriegsgeschehen begleiten. Er analysiert die veröffentlichten Texte und stellt ihre Lügenhaftigkeit bloß. Als ein Giftgaseinsatz als „glorreich“ besungen wird, verballhornt er dies zu „chlorreiche Offensive“. Später, 1924, zieht er in einem bemerkenswerten Aphorismus ein sarkastisch-resigniertes Fazit: „Krieg ist zuerst die Hoffnung, daß es einem besser gehen wird, hierauf die Erwartung, daß es dem anderen schlechter gehen wird, dann die Genugtuung, daß es dem anderen auch nicht besser geht, und hernach die Überraschung, daß es beiden schlechter geht.“
Das Jahrhundertwerk
Aus der Erfahrung des Krieges wächst das Opus magnum von Karl Kraus Die letzten Tage der Menschheit. Seit 1915 arbeitet er daran, sammelt Zeitungsnotizen, Schilderungen von Schlachten, Aufzeichnungen mitgehörter Gespräche. 1917 ist es fertig, erfährt später aber noch einige Überarbeitungen. Es ist ein Stück, von dem Kraus einleitend sagt, dass eine Aufführung nach „irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde“. Zudem sei es einem Marstheater zugedacht. Der Text verteilt sich auf etwa 800 Druckseiten, die Anzahl der vorkommenden Personen ist kaum geringer, unter ihnen Spießbürger aller Art, Militärangehörige unterschiedlicher Ränge, Drückeberger, Schieber, Personen der Zeitgeschichte, eine Figur, die Nörgler heißt und dem Autor selbst eine Stimme verleiht. Es ist eine wilde Mischung aus Zeitstück und Revue, Kabarett, Dokumentation, aber auch tragischen Episoden. Ein schwacher Vorschein war vielleicht Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung.
Als Ganzes sind Die letzten Tage der Menschheit kaum aufführbar. Angebote von Reinhardt und Piscator, das Monumentalwerk zu inszenieren, hat der Autor abgelehnt. Diese realistische Montage aus über zweihundert Szenen unterschiedlicher Länge verallgemeinert die Niederlage Österreichs letztlich als Niederlage der Menschheit. In der Zwischenzeit haben mutige Theatermacher abgespeckte Versionen des Mammutwerks auf die Bühne gebracht, zuletzt Paulus Manker in Wien.
Der Vorleser
Karl Kraus hat Teile seines Dramas in seine Leseveranstaltungen eingebaut. Die Rezitation seiner Fackel-Texte war sicher auch eine lebenslange Reminiszenz an seinen Jugendwunsch, Schauspieler zu werden. Diese Darbietungen waren enorm erfolgreich. Elias Canetti und andere haben die Wirkung der Abende geschildert und das Charisma des Vorlesers, der die Zuhörer elektrisierte, hervorgehoben.
Es ist erstaunlich, dass Kraus gegen Ende der zwanziger Jahre sein Leseprogramm um den Komponisten und Librettisten Jaques Offenbach erweitert, hatte er zuvor doch Shakespeare, Gogol, Goethe, Nestroy, Raimund und Wedekind vorgetragen. Aber er ließ die Hörer urteilen, ob sie seine neue Vorliebe für den Operettenkomponisten Offenbach, den er für den größten satirischen Schöpfer aller Zeiten erachte, teilen könnten. Nach dem Eindruck des Komponisten Ernst Krenek war dies der Fall. Er selbst habe dreieinhalb Stunden zugehört und schließlich bedauert, dass es schon zu Ende war. Karl Kraus stirbt 1936. Sein Grab ist auf dem Wiener Zentralfriedhof.
Wer sich einen akustischen Eindruck vom Vorleser Karl Kraus verschaffen will, kann sich die Tonaufnahmen mit der Originalstimme des Autors anhören, die im Audioarchiv der Österreichischen Mediathek der Technischen Universität Wien vorliegen.
Wie hält man 7 Stunden Theater aus? Musstet ihr Abstand halten und Maske tragen? In Wien, so liest man, grassiert ja Covid-19!
Man hat es ganz gut ausgehalten, denn man musste ja herumwandern; ständig entwickelten sich neue Szenen, es gab Getränke und Süßes und nach ca. 2/3 der Zeit ein richtig opulentes Essen vom Buffet, an großen runden Tischen, bei Kerzenschein. Die Maske hat man je nach Situation mal aufgesetzt, mal nicht.Es war ein tolles Erlebnis!