Und am Abend setzte er sich zu Tisch mit den Zwölfen. Und da sie aßen, sprach er: „Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.“ Und sie wurden sehr betrübt und hoben an, ein jeglicher unter ihnen, und sagten zu ihm: „Herr, bin ich’s?“ Er antwortete und sprach: „Der die Hand mit mir in die Schüssel getaucht hat, der wird mich verraten.“ Das ist der Moment.
Auf Leonardos Bild sind die Jünger eher aufgebracht als betrübt. Die linke Dreiergruppe wirkt überrascht. Bartholomäus beugt sich vor, schaut inständig auf den, der das gerade gesagt hat, Jakobus der Jüngere scheint schockiert zu sein und hebt instinktiv die rechte Hand, Andreas protestiert, in typischer Abwehrgestik weist er mit beiden Händen die Unterstellung von sich.
Die nächste Dreiergruppe ist die interessanteste, denn hier sitzt tatsächlich der Verräter, hervorgehoben durch seine dunklere Hautfarbe. Er greift nach dem Teller, während Jesus‘ Hand in gleicher Entfernung und Haltung von rechts kommt. So wird „der die Hand mit mir in die Schüssel getaucht hat“ für ein Publikum, das andere Essgewohnheiten hat als der Vordere Orient, plausibler. Beide haben vom selben Teller das Brot genommen. Auch Judas schaut zu Jesus hin, in der rechten Hand hält er einen Beutel, dessen größter Teil hinter der Tischkante verschwindet: Es ist das Bestechungsgeld. Anders als in vielen früheren Interpretationen der Szene ist Judas hier nicht von den Jüngern abgesondert, sondern in die Gemeinschaft integriert. Hinter ihm spricht Simon Petrus auf Johannes ein, traditionell als Jesus‘ Lieblingsjünger betrachtet und daher immer zu seiner Rechten platziert, meist mit dem Kopf auf seiner Schulter oder Brust. Johannes hat die Augen niedergeschlagen; er wirkt traurig; Petrus legt ihm tröstend die Hand auf die Schulter.
Jesus befindet sich in der Mitte der Komposition, die pyramidenartig seine Silhouette in die Zentralperspektive einordnet. Er schaut nach unten, blickt keinen der Seinen an. Die linke Handfläche ist geöffnet. Eine Geste der Resignation?
Das Geschehen in der dritten Dreiergruppe ist besonders dynamisch: Thomas hebt beinahe drohend den Zeigefinger; er scheint empört zu sein; Jakobus der Ältere will Jesus begütigend umarmen, offenbar hält er das Gesagte eher für eine unrealistische Befürchtung, Philippus ist aufgesprungen und zeigt mit beiden Händen auf sich: „Ich nicht!“
Matthäus und Thaddäus sind ebenfalls in heller Aufregung und mit großer Gestik dargestellt, sie wenden sich von Jesus ab und Simon Zelotes zu, der eher ruhig bleibt und etwas zu erklären scheint.
Leonardos Gestaltung ist in ihrer durchdachten Kompositionen und starken Emotionalität revolutionär. Leider war sein Innovationsdrang bei der Wahl der Technik problematisch. Statt wie bei traditionellen Fresken in den feuchten Putz malte er auf trockener Fläche. So traten schon bald Schäden auf, die nicht immer sachgemäß behoben wurden. Erst eine aufwendige, insgesamt 20 Jahre dauernde Restaurierung, die 1999 beendet wurde, schaffte es, den weiteren Verfall aufzuhalten.
Das Wandbild befindet sich im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie, das im Auftrag des Herzogs Ludovico Sforza erbaut und 1482 fertiggestellt wurde. Die Kirche war als Grablege seiner Familie gedacht, aber nur seine Frau Beatrice d’Este, die mit 21 Jahren (!) bei der Geburt ihres dritten (!) Kindes starb, wurde hier beigesetzt. Dem Herrschergeschlecht werden wir übrigens bei einem Ausflug nach Pavia wiederbegegnen.
Wir hatten die Eintrittskarten für das Cenacolo schon Wochen vor der Reise besorgt. Die Organisation war vorbildlich. Eine Woche vor dem Termin erhielt man genaue Instruktionen, wann man sich vor Ort einzufinden habe, wie der per Mail zugesandte Berechtigungsschein in eine Eintrittskarte einzulösen sei, was mit Rucksäcken etc. zu geschehen habe, dass man sich nur 15 Minuten im Raum aufhalten dürfe, keine Fotos mit Blitz erlaubt seien usw. Und dann klappte alles wie am Schnürchen. Unsere Führerin sprach gutes Englisch und war sehr kompetent. Kaum vorstellbar, aber sie strahlte Begeisterung aus für das, was sie vermutlich mehrmals täglich tat, und war allen Fragen gewachsen.
So begann schon unser erster Tag in Mailand mit einem Höhepunkt.