Das Neue ist das Alte oder fast

Der Schein trügt. Auf dem Marktplatz von Hildesheim glaubt man in einem gut restaurierten mittelalterlichen Ensemble zu stehen, doch was wir sehen, sind Bauwerke aus dem Jahr 1989. Nur wenige Häuser hatten die Bombardierungen während des Zweiten Weltkrieges überstanden und es gab in Architektenkreisen starke Vorbehalte gegen eine originalgetreue Rekonstruktion. Stadtplaner forderten breite Straßen und weite Plätze, man baute in Beton und nüchternen Silhouetten. Doch es bildeten sich Bürgerinitiativen, die Respekt für das historische Erbe einforderten und schließlich 1980 die Stadtverwaltung und die Sparkasse davon überzeugen konnten, den Marktplatz als weitgehend originalgetreue Kopie wieder zum Leben zu erwecken.

Das Schmuckstück der Stadt, Deutschlands berühmtester Fachwerkbau, ist das Knochenhaueramtshaus, 1529 als Zunfthaus der Fleischer erbaut. Schon im 19. Jahrhundert war es stark baufällig und sollte eigentlich abgerissen werden. Doch die Stadt kaufte das Gebäude und ließ es restaurieren. Am 22. März 1945 war das Schicksal des alten Hauses dann endgültig besiegelt. Als die Trümmer abgeräumt worden waren, baute man hier einen siebengeschossigen Kubus, denn ein Wiederaufbau sei „Blut- und Bodentümelei“, so der Architekt Dieter Oesterlein.  Man kann einmal „Hotel Rose Hildesheim“ googeln, um sich dieses hässliche Monstrum anzusehen.

Bis zum Zweiten Weltkrieg galt Hildesheim als eine der schönsten mittelalterlichen Städte Deutschlands, wurde das „Nürnberg des Nordens“ genannt. Hier wohnten wohlhabende Ackerbürger, Handwerker und Händler; die fruchtbaren Lößböden der Umgebung brachten gute Ernten. Erst mit dem Dreißigjährigen Krieg setzte der wirtschaftliche Niedergang ein. Eine Vorstellung davon, wie die Stadt einmal ausgesehen hat, gewinnt man im südlich gelegenen Fachwerkviertel, in der Nähe von St. Godehart. Arm an beeindruckenden Kirchen ist Hildesheim wahrlich nicht! Der heilige Godehard ist den meisten wohl eher durch den St.Gotthard-Tunnel bekannt, er war indes 1022 -1038 Bischof von Hildesheim, seinerzeit ein politisches und kulturelles Zentrum von überregionaler Bedeutung. Auch die nach ihm benannte Kirche wurde 1945 von einer Luftmine getroffen, doch hier waren die Schäden gering. Die spätromanische Basilika ist nach wechselvollen Zeiten (Säkularisierung 1803, Verwendung als Heumagazin) durch die Ausmalung des renommierten Künstlers Michael Welter, der auch die Wartburg und die Marienburg (heute: Malbork) ausgestaltete, zu einer besonderen Attraktion geworden.  Godehard wurde 1133 von Papst Innozenz II. heilig gesprochen. Bei schweren Geburten, Steinleiden, Gicht, Rheumatismus, Blitz und Hagel kann zu ihm gebetet werden.

Der Hildesheimer Dom ist UNESCO-Weltkulturerbe. Auch seine Geschichte, die 815 beginnt, ist geprägt durch Aufbau, Zerstörung, Wiederaufbau und Veränderung. In früheren Jahrhunderten waren es Brand, Baufälligkeit und Teilabriss, die zu Neugestaltungen Anlass gaben: An- und Ausbauten, Barockisierung und Ausmalung. An demselben Tag wie das Knochenhaueramtshaus wurde der Dom fast vollständig zerstört. Heute ist der Innenraum hell und schlicht, sparsam mit geretteten Kunstwerken aus dem Domschatz ausgestattet, so dass die imponierende Architektur für sich wirkt. In der Krypta steht der vergoldete Reliquien-Schrein Godehards, doch als bedeutendster Schatz gilt die bronzene Bernwardtür von 1015. Acht Bildfelder erzählen Geschichten aus dem Alten (linker Flügel) und dem Neuen Testament (rechter Flügel). Im Bild: Maria mit dem Kind, die Heiligen Drei Könige von rechts hinzutretend. Stilisierte Löwenköpfe tragen Ringe, die als Türzieher dienen.

Auch St. Michaelis ist UNESCO-Weltkulturerbe und eine der wenigen Simultankirchen Deutschlands, d.h. sie wird von der evangelischen und der katholischen Kirche genutzt, allerdings in getrennten Bereichen. Hier, man mag es fast nicht wiederholen, blieb ebenfalls nach zwei Bombenangriffen nur eine Trümmerwüste zurück. Wie auch beim Dom erfolgte die Rekonstruktion nicht auf der Basis des Vorkriegszustandes, sondern angelehnt an die ursprüngliche Gestalt. Im Original erhalten ist dank rechtzeitiger Evakuierung das 1220-40 entstandene Deckenbild, das auf ineinandergreifenden Eichenbrettern den Stammbaum Jesu zeigt, wie er in den Evangelien von Matthäus und Lukas erzählt wird. Glücklich, wer ein Fernglas dabeihat (wir nicht!) und eine starke Nackenmuskulatur. Eine sehr zugewandte ehrenamtliche Helferin erklärte uns die Anlage, machte auf besondere Schätze aufmerksam und führte uns zu dem modernen Kruzifix. „Aus welchem Material, glauben Sie, ist das gefertigt?“ Wir tippten auf Holz. „Nein, nein, fassen Sie mal an; ich erlaube Ihnen das!“ Es war Eisen.

Am Samstagabend besuchten wir in St. Michaelis ein Benefizkonzert zugunsten der Ukraine-Hilfe. Musik von Bach, Mendelssohn, Arvo Pärt, Philipp Glass und anderen. Auf Wunsch des Pfarrers und der Ausführenden kein Applaus und am Schluss ein kurzes Verharren in Stille – stehend.

 

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