
Quelle: Wikipedia
„Ich lag im Krankenzimmer, und die Schwestern brachten mir Bücher, von Lermontow zum Beispiel. Ein Jahr lang lernte ich an Lermontow und Puschkin die kyrillische Schrift und die russische Sprache. Die Wachmänner baten mich anschließend, für sie Liebesbriefe zu verfassen, weil ich wie Puschkin schrieb.“ Karl Dedecius
Gerade in Zeiten eines zunehmenden Autoritarismus in Europa muss an einen großen Literaturvermittler, Brückenbauer, Büchermacher, Kulturfunktionär und gebildeten literarischen Übersetzer erinnert werden: Karl Dedecius. Dass 2016 die Nachricht seines Todes im 95. Lebensjahr selbst bei Kulturjournalisten nicht gebührend kommentiert wurde, will allerdings fast stimmig erscheinen. Denn der unermüdlich Arbeitende wurzelte in Verhältnissen, in denen ständige Selbstvermarktung und mediale Präsenz nicht oberstes Gebot waren.
Geboren wurde Karl Dedecius in Łόdż, der Vielvölkerstadt, dem polnischen Manchester. Sein aus einer böhmischen, deutschsprachigen Familie stammender Vater war Staatsbeamter: zunächst noch unter russischer Oberhoheit, nach dem Weltkrieg in polnischen Diensten. Der junge Karl geht auf Betreiben des Vaters aufs polnische Gymnasium, wo auch deutsche Lehrer unterrichten. Natürlich kommt er mit polnischer Literatur in Berührung, er übersetzt im Unterricht Kochanowski (1530 – 1584) aus dem Lateinischen (!), später dann auch Passagen aus dem polnischen Nationalepos „Pan Tadeusz“ von Mickiewicz (1798 – 1855). Seine Schulzeit hat Dedecius in guter Erinnerung behalten, er war wohl auch ein williger und bildungshungriger Schüler.
Mit dem Einmarsch der Deutschen im September 1939 wird die Familie Dedecius zu Bürgern des Deutschen Reichs. Der Vater wird als deutsch und polnisch sprechender Verwaltungsfachmann mit Aufgaben betraut, bei denen diese Sprachkenntnisse nötig sind. Da er sich weigert, einer Nazi-Organisation beizutreten, kann er keine höhere Funktion mehr ausüben. Der Sohn Karl wird bald einberufen und muss schließlich in den Krieg ziehen. Im Sommer 1942 verlobt er sich. Seine Frau sollte er erst nach Kriegsende wiedersehen. Dedecius überlebt die Schlacht um Stalingrad, wird gefangen genommen und wird nach der Lagerhaft Ende 1949 aus Heimkehrerlager Frankfurt/Oder entlassen. In Weimar trifft er seine Verlobte wieder. Obwohl sich ihm in Thüringen berufliche Möglichkeiten eröffnen und er im Kulturbereich tätig werden könnte, ziehen seine mittlerweile schwangere Frau und er es vor, in den Westen zu gehen.
Der Übersetzer und Brückenbauer
Vorübergehend arbeitet er als Korrektor im „Pfälzer Tageblatt“ in der Nähe von Landau, wohin ihn ein Kriegskamerad gelotst hatte. Er spricht bei Verlagen vor, da ihm eine Übersetzer- oder Lektorentätigkeit für slawische Literatur vorschwebt. Die Verlage aber winken ab. „Nach diesem Krieg wird sich in Deutschland niemand mehr für slawische Literatur interessieren“, bescheidet ihn Peter Suhrkamp. Dedecius heuert bei der Allianz-Versicherung an, wo er fünfundzwanzig Jahre bleiben wird. Neben dem Brotberuf schafft Dedecius es, zum bedeutendsten Übersetzer polnischer Literatur im Nachkriegsdeutschland zu werden. Und wen hat er nicht alles übersetzt und dem deutschen Leser vorgestellt: die Dichter Tadeusz Rόżewicz und Zbigniew Herbert, die Nobelpreisträger Czesław Miłosz und Wisława Szymborska, den Aphoristiker Stanisław Jerzy Lec und viele, viele andere.
Die von Dedecius herausgegebenen Anthologien waren bestimmend für die Rezeption polnischer Literatur zumindest in Westdeutschland. Genannt seien : „ Polnische Pointen Satiren und kleine Prosa des 20. Jahrhunderts.“ (Ullstein-Taschenbuch, 1981) und „Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Ein Rundblick.“ (Ammann-Verlag, 2000). Zudem publizierte der Autor Dichterporträts und literarhistorische Essays zur polnischen Literatur. Dedecius ist es zu verdanken, dass 1980 das „Deutsche Polen-Institut“ in Darmstadt gegründet wurde. Bis 1997 war er dessen Leiter. Die größte Leistung ist vielleicht die 50-bändige „Polnische Bibliothek“, die von 1982 bis 2000 im Suhrkamp-Verlag erschien. Dedecius wurde vielfach ausgezeichnet: mit Ehrendoktorwürden, mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1980) ebenso wie mit dem Verdienstsorden der Republik Polen (1996). Die gelungenste Auszeichnung mag es gewesen sein, dass man in seiner Heimatstadt Łόdż ein Gymnasium nach ihm benannt hat, ein Akt, der in die Zukunft weist.

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Es wäre schön, wenn das Lebenswerk von Karl Dedecius weiter ausstrahlen könnte. Dass das deutsch-polnische Verhältnis stärker problembehaftet ist als das deutsch-französische, ist bekannt. Umso verdienstvoller die nimmermüde Energie der transnationalen Brückenbauer auf beiden Seiten. Die neue polnische Regierung schlägt recht markige Töne an: „Polen erhebt sich von den Knien!“. Die Investoren (aus Deutschland) werden als „Kolonisatoren“ bezeichnet. Damit wird natürlich auf den Deutschen Ritterorden angespielt. Angesichts der im Zwanzigsten Jahrhundert von Deutschen an der polnischen Bevölkerung verübten Verbrechen gibt es allerdings keinen Grund selbst chauvinistisch zu werden, besser wäre es, dem Nachbarland mit Interesse, auch für das kulturelle Erbe, das ja zu einem großen Teil ein gemeinsames ist, zu begegnen.
Allen literaturinteressierten Lesern empfehlen wir das Buch: Karl Dedecius, Ein Europäer aus Łόdż. Erinnerungen. Frankfurt am Main 2006.
Am 20. Mai wäre Karl Dedecius 100 Jahre alt geworden.