In einer Fabrik, Ende des 19.Jahrhunderts: Der Angestellte Horn will einer mittellosen Witwe helfen, die ihren Mann bei einem Betriebsunfall verloren hat. Der Direktor kanzelt ihn deswegen ab. Horn entgegnet, er sei keine Maschine, sondern ein Mensch. „Zuhause, aber in der Fabrik ist Ihre Menschlichkeit nicht erforderlich.“ Die Szene stammt aus dem Film „Gelobtes Land“ von Andrzej Wajda, dem 2016 verstorbenen polnischen Regisseur. Schauplatz des Geschehens ist die florierende Industriestadt Łódź, ein Ort, an dem, wie der Film eindrucksvoll zeigt, Polen, Deutsche und Juden zusammenleben, ein Ort für Glückssucher und Spekulanten, aber auch ein Ort schroffer Klassengegensätze zwischen wohlhabenden Industriellen und ausgebeuteten Arbeitern.
Vom Dorf zur Industriemetropole
In der 1898 erschienenen Romanvorlage schreibt der spätere Nobelpreisträger Władysław Reymont: „Für dieses ›Gelobte Land‹, für diesen Polypen verödeten Dörfer, verschwanden Wälder. Die Erde gab ihre Schätze her, Flüsse ihr Wasser, Menschen wurden hier geboren – alles schlang der Polyp in sich hinein und zermalmte es zwischen seinen Kiefern, er fraß Menschen und Dinge, Himmel und Erde, und als Entgelt gab er den wenigen Erwählten nutzlose Millionen, und der Menge gab er Hunger und Erschöpfung.“
Łódź, 1820 noch ein unbedeutendes Dorf, entwickelte sich in wenigen Jahrzehnten zum „Manchester“ Polens. Wie kam es dazu? Wer über Polens Geschichte schreibt, kommt nicht umhin, die drei polnischen Teilungen (1772, 1793, 1795) zu erwähnen sowie die Tatsache, dass 120 Jahre lang kein souveräner polnischer Staat existierte. Der Wiener Kongress stellte nach dem kurzen napoleonischen Zwischenspiel die Monarchie wieder her. Zar Alexander I. wurde in Personalunion König von Polen, das Land also russisch verwaltet. Die Regierung versuchte gezielt die in den preußisch regierten Gebieten Sachsen, Böhmen und Schlesien ansässigen Tuchmacher in „Kongresspolen“ anzusiedeln, um so besseren Zugang zum russischen Markt zu bekommen. Aufgrund diverser Anreize strömten Handwerker und Arbeiter u.a. nach Łódź, das durch seinen Wasserreichtum für die Baumwollproduktion prädestiniert war.
Blüte, Niedergang und Neubeginn
Der an Architektur interessierte Reisende kann, mit einem Informationsblatt der Touristeninformation versehen, die Orte abschreiten, die auch heute noch den sagenhaften Aufstieg der Industriemetropole dokumentieren. Die Mühle Księży Młyn, wo 1826 die erste Baumwoll- und Leinenspinnerei errichtet wurde, ist Namensgeber eines ganzen Stadtviertels geworden. Wegweiser führen den Besucher in ein mustergültig restauriertes Ensemble, wo rund um die Fabrik eine Arbeitersiedlung nebst Schule, Krankenhaus, Feuerwache, Laden errichtet wurde. Hier ist der Strukturwandel schon erfolgt: Die ehemalige Fabrik beherbergt heute Zahlungskräftige, die sich ein Loft leisten können, in der Feuerwache logiert eine Firma, im Laden ist ein Informationszentrum zum Stadtumbau zu finden. Nostalgiker mögen das kritisch sehen, womöglich von einer Disneyland-Ästhetik sprechen, wenn ehemalige Arbeiterreviere aufgehübscht und touristisch verwertbar gemacht werden. Doch was wäre die Alternative? Nur wenige Straßen weiter befindet sich ein Fabrikgebäude in malerischem Verfall. Die Birken wachsen aus dem Mauerwerk, das Gelände ist wegen Einsturzgefahr gesperrt. Abreißen?
Der Niedergang der Textilindustrie beginnt während des Ersten Weltkriegs und setzt sich fort, weil mit der Staatswerdung Polens und der Oktoberrevolution die russischen und asiatischen Märkte nicht mehr zugänglich sind. Nach den Verwerfungen durch die nationalsozialistische Besatzung und den Problemen der sozialistischen Wirtschaft gibt letztlich die Globalisierung wie überall in Europa der Produktion den Todesstoß. Während im 19. Jahrhundert 70% der polnischen Textilproduktion in Łódź gefertigt wurde, gibt es heute nur noch einige kleine Familienbetriebe und ein mittleres Unternehmen.
Erbe und Verlust
Auf dem breiten Prachtboulevard der Stadt, der Piotrkowska, ist den drei bekanntesten Industriellen der Stadt ein ungewöhnliches Denkmal gewidmet: die Textilunternehmer Izrael Poznański, Karl Wilhelm Scheibler und Ludwik Grohmann sind um einen Tisch herum gruppiert. Erst nach 1989 hat Łódź begonnen, das Erbe des kapitalistischen Aufschwungs als historisch wertvolles Kulturgut zu bewahren und zu pflegen. Die Fabriken und Villen der Genannten sind heute regelrechte Schmuckstücke. So beherbergt z.B. Poznańskis neobarocker Palast das Historische Museum, sein angrenzender Industriekomplex wurde 2002-2006 aufwendig saniert und ist unter dem Namen Manufaktura ein großräumiges Ensemble von Einkaufszentrum, Gaststätten, Kinos u.a. geworden.
Während der Nachlass der Industriemagnaten teilweise bewahrt werden konnte, ist die sprichwörtlich gewordene Inkarnation der Arbeiterklasse unwiederbringlich verloren: der Lodzermensch. „Über Jahrzehnte hinweg arbeiteten, litten und halfen sich Lodzer untereinander. So die Handwerker, Arbeiter und einfachen Menschen, gleichgültig, welcher Nationalität oder welcher Kirche sie angehörten. So entstand der »Lodzermensch«, der beneidet wurde, weil er fleißig war und zupacken konnte. Die Vielvölkerstadt Lodz erzog uns alle zum demokratischen Denken. Die multinationale Gesellschaft konnte nur überleben, weil die abstrakte Denkungsart, hier Pole, hier Deutscher oder Jude oder Russe fehlte. Alle waren auf einander angewiesen … Ab Herbst 1939 verschwand der »Lodzermensch«.“(Krystyna Radziszewska)
Filmstadt Hollyłódź
Heute assoziiert der interessierte Zeitgenosse mit Łódź (Aussprache: Wudsch) nicht mehr Textilien, sondern Filme. In der scherzhaft auch Hollyłódź genannten Stadt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine Filmhochschule gegründet, die so namhafte Regisseure wie den schon erwähnten Andrzej Wajda, Roman Polanski und Krzysztof Kieślowski hervorbrachte. Das sehenswerte Filmmuseum dokumentiert diese Entwicklung. Im Treppenhaus und Festsaal der ehemaligen Fabrikantenvilla wurden sogar einige Szenen aus „Gelobtes Land“ gedreht.
„Theo, wir fahrn nach Lodz, da packen wir das Glück beim Schopf“ – der Schlager von Vicky Leandros aus dem Jahr 1974 mag einigen Lesern bekannt sein. Er geht auf eine ältere Version aus dem Jahr 1915 zurück, die die Landflucht derjenigen besang, denen die Industriemetrople bessere Lebensverhältnisse zu versprechen schien. Hinfahren sollte man auch heute noch, auch wenn nicht unbedingt das große Glück wartet, aber vielleicht das kleine Glück unerwarteter und unvergesslicher Eindrücke.