Maifeierlichkeiten als Teil der politischen Sozialisation
Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als ich das erste Mal Mitte der fünfziger Jahre auf dem Karlsplatz, wo wochentags immer Markt war, mit meinem Vater an einer Kundgebung am ersten Mai teilgenommen habe. Dass ich mich vergleichsweise lebhaft daran erinnere, hat wohl damit zu tun, dass die Redner laut und heftig , die Zuhörer begeistert und parolenfreudig waren, dass Fahnen geschwungen wurden, vornehmlich rote, und dass gesungen wurde. Ich glaube, es war ein Arbeiterchor, Solisten waren damals bei Massenveranstaltungen eher unerwünscht. Ich kann mich nicht entsinnen, was gesungen wurde, aber „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ ist eine ziemlich risikoarme Annahme.
Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,
Brüder zum Lichte empor!
Hell aus dem dunklen Vergangnen
leuchtet die Zukunft hervor.
Heute, da ich nicht mehr sehr textsicher bin, muss mir die Enzyklopädie weiterhelfen, um mich zu belehren, dass das Lied in einem Moskauer Gefängnis 1895/96 entstanden ist, dass es auf einem noch älteren Studentenlied beruht und dass der Komponist die Vorlage von einem Lied im Walzertakt zu einem solchen, das fürs Marschieren geeignet war, umschrieb. Der Dirigent und Komponist Hermann Scherchen, der der Arbeiterbewegung verbunden war, hat es in Deutschland bekannt gemacht.
Dass ich auf die Kundgebung geraten war, hatte damit zu tun, dass mein Vater IG-Metall-Mitglied war, der bei der Auto-Union in Düsseldorf an der Drehbank Hinterradnaben für irgendeinen Fahrzeugtyp zuschliff. Einige seiner Kumpels waren auch dabei. Massenveranstaltungen dienten der publikumswirksamen Artikulation von gewerkschaftlichen Forderungen. In den Fünfzigern hieß es: „Samstags gehört Vati mir!“ oder auch „Fünf Tage sind genug!“. Wie weit mein Verständnis für die Politik damals reichte, weiß ich nicht mehr. Dass ich am Ende der Veranstaltung aber eine Bratwurst mit Löwensenf im Röggelchen bekam, dürfte gewiss sein.
Von den Sechzigern bis zur Wende
In den folgenden Jahren vollzog sich bei mir wie bei einer großen Zahl meiner Generationsgenossen eine gewisse Politisierung. Die Schule trug das Ihre dazu bei, einerseits durch das abschreckende Beispiel von Lehrern, die noch mit ihren Fronterfahrungen hausieren gingen, andererseits durch die von meinem Deutsch- und Geschichtslehrer beförderte Aufklärung über Nazigreuel, den Film „Nacht und Nebel“ von Alain Résnais über einen Aspekt des damals noch nicht so genannten Holokaust oder die Beschäftigung mit dem Auschwitzprozess. Man wurde, wenn man in den ersten Nachkriegsjahren geboren war, gewissermaßen automatisch ein Achtundsechziger, für den die etablierte Linkspartei SPD oder auch die Gewerkschaften, die eine in unseren Augen verkleinbürgerlichte Arbeiterklasse vertraten, nicht attraktiv waren. Der politische Protest wurde zur Domäne der akademischen Jugend, die beachtliche Demonstrationen auf die Beine stellte und sich auf den „langen Marsch durch die Institutionen“ machte. Mittlerweile hatte es mich nach Westberlin verschlagen. Ich war in der GEW und lebte in einem Umfeld, in dem sich die Freunde und Kollegen mehr oder weniger linksradikalen Gruppen zuordneten: Sozialistisches Büro, KBW, KPD/ML, KPD/AO, GIM; die SEW (Sozialistische Einheitspartei Westberlin) galt als „revisionistisch“! Ich kann mich erinnern, dass die Mai-Demonstrationen beträchtliche Ausmaße annahmen. Mehrfach trafen wir uns bei jemandem, um Plakate und Banner zu gestalten, auf denen irgendwelche Maximalforderungen formuliert waren. „Hoch die internationale Solidarität!“ war eine beliebte und gern skandierte Parole. Mit der Abwandlung aus dem schwarz-roten Anarchoblock „Hoch die internationale Kinderschokolade“ kündigte sich schon eine kommende Protestgeneration an.
Als besonders gewaltig habe ich die Maidemonstration 1975 in Erinnerung. Das war der Tag, an dem in Saigon (von nun an Ho-Chi-Minh-Stadt) die Nordvietnamesen die soeben erfolgte Eroberung der Stadt feierten und wir Demonstranten vor dem Schöneberger Rathaus riefen: „Saigon ist frei“. Für viele war ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen, da der Kampf gegen den Vietnamkrieg ein zentrales Anliegen der Studentenbewegung gewesen war. In den achtziger Jahren begannen die Krawallmaifeiern in Kreuzberg, die Hausbesetzerszene spielte eine Rolle, die Kraft der Studentenbewegung und ihrer sektiererischen Organisationen ebbte ab. Neben den Gewaltaktionen in Kreuzberg begann sich der gewerkschaftliche Protest jetzt eher auf den Frühschoppen im Park, den Tanz in den Mai oder vielleicht auf feministisch inspirierte Walpurgisnachtsfeten zu verlagern.
Und wie ist es heute?
Verbindet sich mit dem ersten Mai nicht hauptsächlich die Hoffnung, dass er auf einen Tag fällt, der sich ans Wochenende anschließt oder einen Brückentag zulässt, an dem man einen Kurzurlaub einschieben kann? Man könnte darüber elegisch werden, dass der Maifeiertag an Bedeutung verloren hat. Dass das Absingen von Leonid Petrowitsch Radins Lied als eine sehr nostalgische, sentimentale Veranstaltung erscheint, dass die Worte „Hell aus dem dunklen Vergangenen leuchtet die Zukunft empor“ irgendwie ihren Kontext eingebüßt haben.
Im Jahr der Seuche 2020 könnte die Walpurgisnacht nass werden. Die Wetteraussichten dürften auch das Vergnügen an den traditionell gewaltaffinen Lustbarkeiten der Autonomen und die Stimmung auf der revolutionären 1. Mai-Demo dämpfen. Kontaktsperr- und Abstandsregelungen sowie die begrenzt einfühlsame Begleitung durch die Ordnungskräfte lassen eine weitere Eintrübung erwarten. Immerhin ist es grün geworden, die Bäume haben ausgeschlagen, der Mai ist gekommen.