Manchmal muss man zweimal hinsehen: Guckt da jemand aus dem Fenster? Ist da hinten ein Buchladen? Kommt da etwa gerade dieser bekannte Literaturkritiker heraus? Aber nein, es ist alles nur Illusionsmalerei. Und gar keine Graffiti? Was ist hier los?
Seit 1978 existiert die Lyoner Künstlergruppe Cité Création, die Straßenkunst für jedermann machen will. Ihre Mitglieder besuchten gemeinsam Lyons Hochschule für schöne Künste und studierten dort u.a. die Kunst des Trompe-l’Œil (wörtlich: Augentäuschung), „althergebrachtes Wissen von der Renaissance bis zum Zeitalter der Filmkulissen“. Ein großes Vorbild der Künstler ist Caravaggio.
Anders als vielen Graffiti-Sprayern geht es ihnen nicht um „Selbstverwirklichung“, sondern sozusagen um Dienst am Stadtbewohner. Um Hauswände gestalten zu können, suchen sie, nachdem das Einverständnis des Besitzers eingeholt ist, das Gespräch mit den Bewohnern der Umgebung, was zu langfristigen Diskussionsprozessen führen kann. Inzwischen haben sich etwa 80 Fassadengestalter an dem Projekt beteiligt und nicht nur in Lyon, sondern u.a. auch in Jerusalem, Moskau und Berlin-Lichtenberg Wände gestaltet.
Das bekannteste Werk der Gruppe, la Fresque des Lyonnais, befindet sich im Zentrum, unweit der Saône und zeigt auf 800 Quadratmetern 30 berühmte Persönlichkeiten, die aus Lyon stammen oder die Stadt geprägt haben: den schon erwähnten Bernard Pivot, der jahrelang die Literatursendung Apostrophes moderierte, die Dichterin Louise Labé (1524-66), André-Marie Ampère, den Kaiser Claudius, Antoine de Saint-Exupéry und natürlich die Brüder Lumière, die den Cinematographen erfanden.
Ein paar Straßen weiter trifft man auf die Bibliothèque de la Cité, die hunderten von Schriftstellern aller Genres und Zeiten ein Denkmal setzt. Auch hier ist der regionale Bezug gewahrt. Weitere große Fresken befinden sich im Viertel Croix-Rousse und in den Vororten. So weit wir sehen konnten, war hier tatsächlich nichts überkritzelt oder besprüht. Das Konzept der Kooperation, der lokalen Traditionspflege und sozialen Verbindlichkeit scheint aufzugehen.
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