Sankt Martin war ein guter Mann

Der November ist gewöhnlich ein trister, nebliger Monat, in dem der  Rheinländer den Hoppediz erwachen lässt, den Geist des Karnevals, ein Antidot gegen aufkommende Winterdepressionen. Eine milde Prophylaxe für Kinder sind  am Niederrhein die Laternenumzüge, die in diesem Landstrich zu Ehren des Heiligen Martin von Tours zumindest den Abend des 10.11. erhellen.

Heinrich Hermanns: Sankt-Martins-Zug vor dem Düsseldorfer Rathaus 1905 (Quelle: Wikimedia)

Vor über sechzig Jahren

Ich oute mich sogleich als Martinszugsozialisierter, der schon als i-Dotz (rheinisch für Erstklässler) der Katholischen Volksschule in der Helmholtzstraße in der  Düsseldorfer  Friedrichstadt am Vorabend des Martinstages einen Lampion von der Schule an unserer Pfarrkirche St. Antonius  vorbei zum nahegelegenen Fürstenplatz getragen hat. Die elaborierteren Lampions waren rundgefältelt, in warmem Gelb mit einem aufgemalten freundlichen Mondgesicht. Ich hatte etwas Einfacheres. Akustische Erinnerungen habe ich keine, nehme aber an, dass wir Martinslieder sangen, bis wir an den Ort gelangt waren, wo die Legende des Heiligen Martin vor unseren Augen abrollte: Sankt Martin ritt heran,  gemächlich auf einem riesigen Brabanter Kaltblüter, der in seinem Arbeitsalltag als Brauereipferd Wagen mit Altbierfässern zu den Kneipen zog. Ehrfurchtgebietend. St. Martin stieß nun überrascht auf einen am Boden lagernden Bettler, der fror und seine Hände flehend zum Reiter erhob. Der zog ein blitzendes Schwert aus einer ledernen Scheide    ̶̶   die Furchtsameren unter uns, die schon vor dem Kaltblüter zurückgewichen waren, vergrößerten ihren Diskretionsabstand weiter   ̶   und zerschnitt seinen großen Umhang in zwei Teile. Der Bettler konnte sich nun gegen die Kälte schützen und wir Kinder zum profanen Teil des Martinsfestes übergehen: dem Gripschen. Wir zogen los zu (uns bekannten) Privatleuten, meistens aber in die kleinen Geschäfte, die es noch allenthalben gab, zum Bäcker, Metzger, zum Zeitungshändler, in Lebensmittel- und Haushaltswarenläden… .Wo immer wir aufkreuzten, sangen wir:

Hier wohnt ein reicher Mann / Der uns vieles geben kann / Viel soll er geben / Lange soll er leben / Selig soll er sterben / Das Himmelreich erwerben. / Laß uns nicht so lange stehn / Denn wir wollen weitergehn.

Die Angesungenen hielten meist Süßigkeiten bereit, aber Metzger und Bäcker hatten oft extra kleine Würstchen oder Teilchen vorbereitet, Weckmänner zum Beispiel, ein einfaches süßes Hefeghebäck in den Umrissen einer menschlichen Figur mit einer kleinen weißen eingebackenen Tonpfeife. Hatte jemand nichts für uns vorrätig, schrien wir rituell:  „Jiiitzkraaache!“ (mit kehligem rheinischen „ch“, also „Geizkragen“) und machten, dass wir fortkamen.

Heischebräuche

Wie ich einem Lexikon der Volkskunde entnehmen durfte, gehört das  Gripschen   ̶ zugewanderte Vertriebene nahmen das Wort oft für eine Variante von „Grabschen“  ̶   zu den  Heischebräuchen. Noch in den sechziger Jahren war es im Rheinland üblich, dass zu Beginn des neuen Jahres die Müllmänner ein „Gutes neues Jahr“ wünschten  ̶   natürlich in Erwartung eines Trinkgeldes, heute ist das verboten. Üblicherweise aber  sind es Kinder, die durch die Straßen oder von Haus zu Haus ziehen und um Gaben bitten. Dabei sagen sie Heischeverse auf oder singen Heischelieder, weiß das Lexikon. Es weiß auch noch, dass das Heischefest Halloween (31. Oktober, eigentlich „All Hallows‘ Eve“, also Vorabend von „Allerheiligen“), ursprünglich irisch, über die Vereinigten Staaten wieder nach Europa geraten ist.  Es sei lokal zu beobachten, dass Halloween Traditionen wie das nur 10 Tage später stattfindende Martinssingen verdrängt.

Wie aber kam es überhaupt dazu, dass der Martinstag eine so große Bedeutung gewann? Neben Martinszug und Martinssingen gibt es ja auch noch das Martinsgansessen am Tag der Grablegung des Bischofs Martin von Tours am 11. November 397. Früher markierte der Martinstag den Beginn der Fastenzeit, die vor Weihnachten begangen wurde. Da gewisse Nahrungsmittel in der Fastenperiode nicht verzehrt werden durften, wurde am letzten Tag vor Beginn des Fastens noch einmal ausgiebig getafelt. Zudem war der Martinstag das Ende des bäuerlichen Wirtschaftsjahres. Es gab den neuen Wein. Das Weidejahr war zuende. Der Zehnt musste entrichtet werden. Pachtverträge liefen aus  und wurden neu geschlossen. Das Dienstverhältnis von Mägden und Knechten endete oder begann. So verwundert es nicht, dass der Vorabend des 11. November schon früh Zeitpunkt von allerlei Festivitäten war: Heischegänge der Kinder und Jugendlichen, geselliges Essen und Trinken im Wirtshaus oder zuhause, Abbrennen von Martinsfeuern mit Sprung übers und Tanz ums Feuer, Fackellauf mit Strohfackeln. Dieses Brauchtum entwickelt sich spontan und regional unterschiedlich. Mitte des 19. Jahrhunderts werden Martinsbräuche dann auch zu städtischen Veranstaltungen, oft von Schulen, Kirchengemeinden und Kommunen organisiert. Besonders lebendig scheint die Tradition des Martinszugs samt Nachstellung der Mantelteilung am Niederrhein. Auch dieses Jahr wurden in Düsseldorf und Umgebung ca.100 Züge angemeldet.

Eine auslaufende Tradition?

St.-Martin-Kapelle in Bürgstadt (Main)

Die Welt heute ist nicht mehr jene der eingangs wiedergegebenen Kindheitserinnerungen. In Zeiten globaler Kommerzialisierung, aber auch aufgrund einer internationalisierten, vermarktbaren Partykultur müssen Reminiszenzen an einen Bischof im Frankenreich des vierten Jahrhunderts ziemlich uncool erscheinen, Begriffe wie „Brauchtum“ und  „Heischegang“ sowieso. Wenig überraschend also, dass der Vorsitzende der Partei „Die Linke“ in NRW vor einigen Jahren forderte,  den Martinstag in „Sonne-Mond-und-Sterne-Fest“ umzubenennen und die Geschichte des hl. Martin künftig nicht mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Begründung: Angehörige des muslimischen Kulturkreises könnten das Feiern des Sankt-Martin-Festes als diskriminierend empfinden. Seine eigene Partei allerdings distanzierte sich von dieser Forderung, auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland lehnte ihn ab, die katholische Kirche erwartungsgemäß desgleichen. Es erstaunt ja auch, dass gerade eine Heiligengeschichte, die die Solidarität mit den Armen beispielhaft vorführt, nicht interkulturell vermittelbar sein sollte. Es gibt übrigens auch noch die von Martins Biograph Sulpicius Severus überlieferte Episode der Kriegsdienstverweigerung aus religiösen Gründen, die zwar keine Rolle im Martinsbrauchtum spielt, manchen Linken aber doch vorbildlich erscheinen könnte.

Zwei Freunde des Martinsbrauchtums haben übrigens den Antrag gestellt, diese rheinische Tradition (nach dem rheinischen Karneval und der Flussfischerei an der Sieg) ins Unesco- Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufzunehmen.

 

 

 

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