In kleinen Städten ist Geschichte oft komprimiert. Zeugen der Vergangenheit sind räumlich zusammengedrängt, bequem zu erreichen, nahbar. Von Mailand ist Pavia keine 50 Kilometer entfernt und mit der Regionalbahn gut und günstig zu erreichen. Wenn man die Mailänder Vororte durchfahren hat, öffnet sich die Poebene und der Reiseführer bestätigte später die Ahnung , dass die sattgrünen Felder links und rechts der Strecke dem Reisanbau dienen. Pavia hat heute um die 70 000 Bewohner. Es ist eine der ältesten und schönsten Städte der Lombardei. Die Gegend um Pavia war schon in vorrömischer Zeit besiedelt, wurde von den Römern als Militärstützpunkt gewählt und zur Stadt ausgebaut und mit dem Namen Ticinum versehen. Im 6. Jahrhundert kamen die Langobarden und machten den Ort zum Capoluogo ihres Reichs und für lange Zeit zu einer der wichtigsten Städte in Norditalien.
1359 übernahm das Mailänder Herrschergeschlecht der Visconti die Stadt und begründete den Ruf Pavias als Kultur- und Wissenschaftsstandort der Region. Höhepunkt war die Gründung der berühmten Universität im Jahre 1361; sie ist eine der ältesten Europas. In Mailand übrigens wurde erst 1923 eine Universität gegründet.
Der Stadttourist verlässt sich in der Regel auf seinen Reiseführer oder informiert sich auf dem Smartphone über das, was er zu sehen beabsichtigt, gemäß der nachdenkenswerten Devise Goethes „Man sieht nur, was man weiß“. Glücklich aber, wer auf einen ehrenamtlichen Erklärbär trifft, der einer italienweiten Organisation angehört, die Besuchern das kulturelle Erbe näherbringen will. So widerfuhr es den Reisenden in der Basilika San Michele Maggiore. Ein älterer, sich ausweisender Herr, wie sich später herausstellte, ein ehemaliger Architekt, bot seine Dienste an. Er lockte uns mit dem Versprechen, er könne zwar wenig Englisch, sei aber in der Lage, sehr langsam Italienisch zu sprechen. Die Basilika ist – im Gegensatz zu den meisten anderen romanischen und gotischen Sakralbatuen der Region – nicht aus Backstein aufgemauert worden, sondern aus Sandstein. Der Bau gilt als Schlüsselwerk der lombardischen Romanik und ist – wie immer – Nachfolger einer Vorgängerkirche, hier aus langobardischer Zeit. Die heutige Basilika wurde um 1100 mit der Errichtung von Krypta, Chor und Querschiff begonnen, sie fiel in Teilen beim großen Erdbeben vom Januar 1117 wieder zusammen; vollendet war der Bau, als sich am 15. April 1155 Kaiser Friedrich Barbarossa zum König von Italien krönen ließ.
Unser Cicerone goß das Füllhorn seines beträchtlichen Wissens über uns aus und wies auf die Tatsache hin, dass der Grundriß die Form des üblichen lateinischen Kreuzes hat, erklärte den erkennbaren Übergang von Tonnengewölben zur romanischen Neuerung der Kreuzgewölbe, ließ uns das achteckige Turmgeschoss mit Kuppel bewundern, trauerte über den Verfall der witterungsgeschädigten Westfassade und machte uns auf deren auffällige Bündelpfeiler aufmerksam. Wir dankten, machten vom Angebot, für die Erhaltung der Basilika zu spenden, Gebrauch, beschleunigten unsere Schritte, um die Brücke über den Ticino, der im Frühjahr noch ausreichend Wasser führte, zu besichtigen und eilten zur Basilica minor „San Pietro in Ciel d’Oro“ . Es heißt, sie sei im 6. Jh. über dem Grab des Philosophen Severinus Boethius errichtet worden. Dieser war vom Ostgotenkönig Theoderich um 525 wegen Hochverrats hingerichtet und später heiliggesprochen worden. Eine Klostergründung durch den Langobardenkönig Liutprand steht wohl im Zusammenhang mit der Überführung der Gebeine des Kirchenvaters Augustinus aus Sardinien nach Pavia. Die Reliquie fand allerdings erst im 12. Jahrhundert Platz in einem Marmorschrein in San Pietro.
Nach der Aufgabe des an die Kirche grenzenden Klosters im Jahre 1785 verfiel die Kirche. Seit Ende des 19. Jh. wurde die Kirche wieder restauriert.
Die Kartause von Pavia
Etwa neun Kilometer nordöstlich der Stadt befindet sich die Certosa di Pavia. Die Kunsthistorikerin, die uns in Milano das Cenacolo erläutert hatte, empfahl geradezu gebieterisch einen Besuch der Certosa.
Der massive, beeindruckende Bau des vormaligen Kartäuserklosters geht auf die Visconti zurück. Gian Gialozzi, der Herzog von Mailand, ließ es errichten. Er wollte eine repräsentative Grablege für sein Geschlecht schaffen. Der Kartäuserorden widmet sich besonders dem Gebet für eigenes und fremdes Seelenheil und schien dem Herrscher geeignet, seine Angst vor der ewigen Verdammnis ob seiner politischen Missetaten durch mönchische Fürbitten zu mildern. Der Bau wurde 1396 begonnen, zog sich lange hin, auf das Kloster folgte der räumlich verbundene Kirchenbau und abgeschlossen waren die Arbeiten im Großen und Ganzen 1495. Schon der erste Eindruck der Kirche Madonna della Grazie ist überwältigend: die erst 1549 vollendete weiße Westfassade aus der Zeit der Renaissance! Der hier zur Geltung gebrachte Marmor wurde aus Carrara und aus den Steinbrüchen von Candoglia am Lago Maggiore herangeschafft. Der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt urteilte im 19. Jahrhundert: „Allein die unermeßliche Pracht und zum Teil der feine dekorative Geschmack, welche das Erdgeschoß beherrschen, haben ein in seiner Art unvergleichliches Ganzes hervorgebracht.“
Im Kircheninneren finden sich die liegenden Figuren von Lodovico il Moro und seiner im Alter von 22 Jahren verstorbenen Ehefrau Beatrice d ‚Este, Der Hochaltar ist in der Form eines Tempels mit einer großen Kuppel gestaltet. Lodovico hat den geschnitzten Holzchor mit kunstvollen Intarsien des Gestühls in Auftrag gegeben. Zahlreiche Handwerker und Künstler der Renaissance schufen biblische Szenen und Heiligenerzählungen. Die Fertigstellung soll 100 Jahre gedauert haben. Nach einer langen wechselvollen Geschichte mit der zwischenzeitlichen Aufhebung des Klosters (1810), einem Rückruf der bereits von Kaiser Joseph dem II. vertriebenen Karmeliter im Jahr 1843 übernimmt 1866 der italienische Staat den Komplex. Seit 1960 beherbergt das Kloster wieder einen Orden: die Zisterzienser.