Turin mit Wolfsburg zu vergleichen, erscheint wie eine Majestätsbeleidigung. Und doch haben beide Städte gemeinsam, dass sie über Jahrzehnte vornehmlich als Produktionsstätten von Automobilen wahrgenommen wurden. 1899 gründeten „acht passionierte Automobilisten“, wie es im Reiseführer heißt, die Fabrica Italiana Automobile Torino, kurz FIAT. Zu den ersten Investoren gehörte der Sohn eines Großgrundbesitzers aus einem nahegelegenen Dorf : Giovanni Agnelli. Schon ein Jahr später übernahm er die Geschäfte, wurde Konstrukteur, Rennfahrer, Marketing- und Finanzstratege.
Nach einigen Jahren der kleinteiligen Produktion in innerstädtischen Werkstätten nahm die Entwicklung von FIAT Fahrt auf.1917 bis 1923 wurde im Industriegebiet Mirafiori das Fiatwerk Lingotto (Barren) erbaut, ein Gebäudekomplex, der nach dem Vorbild der Ford-Werke in Detroit entworfen wurde und Platz für alle Produktionsschritte, Verwaltung usw. hatte. Das Erstaunlichste an diesem Entwurf sind die zwei elliptischen Rampen auf dem Dach, die Teststrecke. Offenbar bot die kaum einsehbare Anlage Schutz vor allzu neugierigen Blicken der Konkurrenz. Bereits 1939 war die Nachfrage nach Fahrzeugen aber so gewachsen, dass die Fabrik an ihre Grenzen kam. Eine neue Produktionsstätte musste errichtet werden. Die Industrialisierung der 1960er Jahre führte zu einer starken Einwanderung von Süditalienern und zur Entstehung von Satellitenstädten rund um den alten Turiner Stadtkern. 1983 schloss die Lingotto-Fabrik endgültig. Der Architekt Renzo Piano, auch in Deutschland nicht unbekannt, gewann den Architekturwettbewerb um die Neugestaltung des Areals. Heute enthält der Lingotto ein Einkaufs-, ein Messe- und ein Kongresszentrum.
Das Teststreckendach wurde begrünt und lädt zu Spaziergängen ein, Alpenblick inklusive. Ein kleiner Ausstellungsraum zeigt Modelle des legendären Cinquecento und in einem weiteren Stockwerk werden einige Stücke aus der Gemäldesammlung der Familie Agnelli gezeigt: Canaletto, Manet, Modigliani, Picasso, Matisse u.a.
Direkt vom Lingotto aus gelangt man zum Arco Olimpico, einem der Bauwerke, das für die 20. Olympischen Winterspiele im Jahr 2006 errichtet wurden. Eine Fußgängerbrücke, die Passerella Olimpica führt zum ehemaligen Olympischen Dorf und auch hier lohnt sich der Blick auf die schneebedeckten Alpengipfel. In zwei Stunden, so die Werbung für Skifahrer, könne man auf der Piste sein.
Eigentlich hatten wir ja den Blick auf die Alpen von der Turmspitze der Mole Antonelliana werfen wollen, aber die entsprechenden Tickets waren für die nächsten vierzehn Tage ausverkauft; man hätte sich schon von zu Hause aus um eine prenotazione bemühen müssen. Das Wahrzeichen der Stadt war mit 167,5 m bei seiner Fertigstellung im Jahre 1889 das zweithöchste begehbare Gebäude der Welt. Nur das vier Jahre zuvor erbaute Denkmal für George Washington (der Obelisk in Washington, D.C.) war 1, 80 m höher.
Die Mole (Riesenbau), nach ihrem Architekten Antonelli benannt, war zunächst als Synagoge geplant. Nach der Einführung der Religionsfreiheit durch König Carlo Alberto hatte die jüdische Gemeinde ein nicht sehr großes Grundstück unweit der Via Po erworben; der ehrgeizige Architekt baute also in die Höhe, bis die finanziellen Mittel erschöpft waren. 1878 erwarb die Stadt den halbfertigen Bau und ließ Antonelli weitermachen, der 10 Jahre später verstarb. Lange Zeit blieb der Bau ungenutzt. Nachdem ein Orkan 1953 die Spitze abgebrochen hatte, wurde diese mit Stahl verstärkt. Erst 2000 fand sich eine sinnvolle Nutzung des Gebäudes: das Museo Nazionale del Cinema zog ein. Ein gläserner Aufzug bringt nun die Besucher zur Panoramaplattform unterhalb der Kuppel. Ja, schade, dass das nicht geklappt hat!
Eine weitere Möglichkeit, einen spektakulären Ausblick zu genießen, wäre die hoch gelegene Basilica de la Superga gewesen. Superga – ist das nicht eine Turnschuhmarke? In der Tat handelt es sich um einen Modeklassiker. Ein Turiner Gummifabrikant hatte 1928 für seine Tennis spielende Ehefrau den ersten Canvas-Sneaker mit Gummisohle erfunden und nach der Wallfahrtskirche benannt. Wie andere fast vergessene Turiner Marken, so der legendäre K-Way, die zusammenlegbare Plastik-Regenjacke, mit Bauchgurt immer dabei, oder das Sport-Label Kappa sind von dem Turiner Marco Boglione aufgekauft und zu neuem Leben erweckt worden. Natürlich werden die Produkte heute nicht mehr vor Ort gefertigt, aber Entwürfe und Marketing sind italienisch geblieben.