Neapolitanische Kaffeehäuser

Was treibt den Reisenden eigentlich in ganz bestimmte Lokale, um dort ein Frühstück einzunehmen, einen Apéro zu trinken, Zeitung zu lesen, eine kleine Speise zu verzehren? Es muss das besondere Fluidum sein, das man dort zu erleben hofft. Wien, Budapest, Prag gelten als Orte mit charakteristischen traditionellen Cafés, die in allgemeinen und speziellen Reiseführern als aufsuchenswert beschrieben werden. Aber auch italienische Städte bergen Kaffeehäuser, die so betrieben werden, dass der Gast sich zum Verweilen eingeladen fühlt. Schon bei unserem ersten Besuch in Neapel, 2019, auf der Rückreise von Sizilien, stand das Gran Caffè Gambrinus ganz oben auf der Prioritätenliste. Das Kaffeehaus wurde 1860 in zentraler Lage an der Piazza del Plebiscito, in der Nähe des Palazzo Reale und des Teatro San Carlo gegründet, konnte sich so rasch einer illustren Kundschaft erfreuen und wurde zum Hoflieferanten. Politiker, Musiker, Schriftsteller und sogar Sissi tranken hier Kaffee. 

Erst beim zweiten Anlauf gelang das Vorhaben, denn am Samstagnachmittag waren die Sitzplätze in den Sälen ebenso wie die Stehplätze am Tresen so stark nachgesucht, dass wir aufgaben. Also Frühstück am Sonntagmorgen! Auch zu früher Stunde ist das Café gut frequentiert, aber da ist ja noch ein Tischchen frei! Schade, reserviert! Ein Kellner eilt herbei, entfernt kurzerhand das Schild und nimmt unsere Bestellung auf. Tage später fällt der Blick in der Buchhandlung Feltrinelli am Bahnhof auf einen Comic. Aha! Der Commissario ist also eine literarische Figur! Der Schriftsteller Maurizio de Giovanni schrieb 9 Bände über den melancholischen Junggesellen, der in den dreißiger Jahren, also unter faschistischer Herrschaft, Verbrechen aufklärt. Und ein Jahr später, Anfang 2021, sehen wir uns alle Folgen der Serie Commissario Ricciardi auf RAI UNO an. Natürlich kehrt derselbe ab und zu im Gambrinus ein, trifft sich dort mit dem Freund und Arzt Bruno Modo oder der verführerischen Witwe Livia Lucani. Das historische Setting ist glaubhaft, auch das Leben der einfachen Menschen nimmt Raum ein. Pandemiebedingt gab es zunächst keine zweite Staffel, aber offenbar sind jetzt Dreharbeiten im Gange.

Beim Stadtspaziergang fanden wir damals in der Nähe der Kirche Gesù Nuovo ein kleines Café, das sich Salotto Letterario nannte. Ein Blick durchs Schaufenster war vielversprechend: gemütliche Sitzgelegenheiten, Bücherregale, junge Leute. Es war Aperitif-Zeit, also hinein! Ein eleganter älterer Herr sprach uns in perfektem Deutsch an. Es stellte sich heraus, dass er der Vater der Inhaber war und lange Zeit als Ingenieur in München gelebt hatte. Er sorgte für die Getränke und Knabbereien und wir unterhielten uns eine ganze Weile über dies und jenes. Seine Kinder, so war zu erfahren, fänden trotz guter universitärer Ausbildung keine Arbeit und so sei es zur Gründung dieses Cafés gekommen, in dem auch Leseabende, Konzerte u.ä. veranstaltet würden. Zum Abschied wünschte er sich von uns einen freundlichen Eintrag bei Facebook.

Im November letzten Jahres konnten wir das Café trotz vorhandener Adresse und Googlemaps nicht wiederfinden. Schließlich fragten wir in einem anderen Lokal nach. „Fallito!“ lautete die Antwort: bankrott! Schade.

Zu den Literaturcafés gehört auch das Caffè letterario Intra Moenia. Der Sonntag, an dem wir es aufsuchten, war trübe und windig, die Piazza Bellini machte einen etwas tristen Eindruck und das Monument ihres Namensgebers stand grau im Nieselregen. Der Innenraum des Cafés aber war gemütlich. Erwartungsgemäß gab es in einigen Regalen viel Lesestoff, und am Nebentisch saßen eine Frau und ein Mann, sie in die Lektüre eines Buches vertieft, er ein Storyboard zeichnend, beide nur gelegentlich aufschauend und sich in einer östlichen Sprache, vermutlich Polnisch, unterhaltend.

Unser Kaffee jedenfalls war gut, der Zitronenkuchen auch. Neben Büchern waren auch Fotografien, Zeichnungen, Aquarelle zu besichtigen. Zum Café gehört der kleine Verlag edizioni Intra Moenia, dessen Programm natürlich auch ausliegt. Entstanden ist das Café in seiner heutigen Gestalt erst 1989 auf Betreiben von Bürgern, die das etwas heruntergekommene umgebende Stadtviertel zu neuem Leben erwecken wollten. Mittlerweile ist es zu einer kleinen touristischen Attraktion geworden.

Anderntags, das Wetter hatte sich verschlechtert, flüchteten wir vor einem Regenschwall in eine Filiale der Buchhandlungskette Feltrinelli. In einer Ecke des Untergeschosses eine Erfrischungsabteilung mit caffè, spremuta, cornetto und panini im Angebot. Wenige, aber lebhafte und vernehmliche Gäste. Zwei ältere Herren in Trenchcoats schneien herein, wohl ebenfalls dem Regen ausgewichen. Sie scheinen alte Freunde zu sein, streiten sich publikumswirksam, wer die kleine Bestellung bezahlen soll, der Obsiegende flirtet mit der Bedienung. Als sie ihren caffè und das kleine Gebäck vor sich stehen haben, beginnen sie eine Konversation, deren Gegenstand der Autor Italo Svevo zu sein scheint. Auch der Name James Joyce weht herüber. Bald stehen sie auf und verlassen das Café, aufgehalten nur durch die Rufe einiger Gäste „Il ombrello“. Ein Angestellter trägt ihnen den Schirm hinterher. 

Wir studieren noch einige Neuerscheinungen in der feltrinellischen Wunderkammer, kaufen zwei Terminkalender, um auf einen Betrag zu kommen, der uns einen Keramikbecher als Zugabe sichert und wagen wieder den Weg nach draußen.

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