Nach sechs Jahren wieder einmal in Breslau, es war jetzt das vierte Mal insgesamt. Erneut hat sich vieles verändert – die Stadt wirkt noch jünger, lebendiger und vitaler. Und das Wiedersehen mit den schon bekannten Stätten wurde diesmal ergänzt durch Orte, die wir nur dank K.’s Leidenschaft für Lost Places aufsuchten. Alle Wege haben wir zu Fuß gemacht; der schönste Spaziergang führte von der Universität zur Jahrhunderthalle, immer an der Oder entlang. Wir dokumentieren hier einen älteren Text von 2016, ergänzt durch einige Bemerkungen zu den aktuellen Eindrücken
„Lass mich jetzt mahlen, und du ruh dich aus.“ So spricht ein Mann zu seiner Frau. Day ut ia pobrusa. a ti poziwai. Der Satz findet sich in einer Chronik des in der Nähe Breslaus gelegenen Klosters Heinrichau aus dem Jahre 1270. Er zeugt von polnischer Besiedlung und gilt als erster schriftlicher Nachweis der altpolnischen Sprache. Doch Schlesien hatte in den folgenden Jahrhunderten eine wechselvolle Geschichte. Nach dem Ende der Piastenherrschaft fielen Teile an die böhmische Krone, dann an das Haus Habsburg, nach den schlesischen Kriegen an Preußen. Als Schmelztiegel der Kulturen hat die Region deshalb eine interessante Geschichte zu erzählen, auch wenn das manchen Nationalisten nicht ins Konzept passt.
Leopoldina
Max Born, Paul Ehrlich, Erwin Schrödinger – Nobelpreisträger, Alois Alzheimer – Mediziner, Gustav Freytag, Hoffmann von Fallersleben – Schriftsteller; Gerhard Hirschfelder, August Froehlich ─ Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime. Was haben diese so unterschiedlichen Persönlichkeiten gemeinsam? Sie waren Absolventen oder Professoren der Breslauer Universität.
Unter der Herrschaft der Habsburger wurde diese 1702 mit zunächst zwei Fakultäten eröffnet und nach ihrem Stifter Kaiser Leopold I. Leopoldina genannt. Die grandiose Aula Leopoldina (Bild), hält diesen Namen auch in der heutigen Uniwersytet Wrocławski lebendig. 1732 vollendet, ist die Aula einer der größten Barocksäle Europas. Sie überstand den 2. Weltkrieg unversehrt und kann heute dank einer umfangreichen Sanierung wieder in ihrer imposanten Schönheit besichtigt werden.
Eine andere Geschichte erzählt der Musiksaal der Universität, das „Oratorium Marianum“, der bei den Kämpfen um Breslau 1944 fast vollständig zerstört wurde. Auch dieser Barocksaal war aufwendig mit Fresken, Stuck, Vergoldungen und farbigem Marmor dekoriert. Erst 1996 konnte mit Hilfe von über 50 Jahre alten Dias, die inzwischen stark verblichen waren und elektronisch nachbearbeitet werden mussten, ein realistisches Bild der ehemaligen Pracht erstellt werden, das als Grundlage der Restaurierungsarbeiten taugte. Für Musikinteressierte hat dieser Raum eine besondere Aura, spielten hier doch Johannes Brahms, Franz Liszt, Niccolò Paganini und Artur Rubinstein, um nur einige namhafte Musiker zu nennen. Wir hörten auf M.’s Handy die „Akademische Festouvertüre“ von Brahms, die hier uraufgeführt wurde.
Ein fast vergessener Ort
Einem weiteren Absolventen der Leopoldina begegnen wir an einem anderen Ort. Auf dem jüdischen Friedhof der Stadt befindet sich das Grab von Ferdinand Lassalle. Dieser, von vielen als Gründervater der SPD verehrt, war der erste Präsident des in Leipzig gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. (Im Bild der Gedenkstein der Görlitzer SPD.) Sein Tod könnte den Stoff für ein Melodram abgeben. Während einer Kur hatte er sich in die junge Helene von Dönniges verliebt, deren Eltern die Zustimmung zur Eheschließung strikt verweigerten. Als Mitglied der Breslauer Burschenschaft forderte Lassalle Satisfaktion von Helenes Vater und forderte ihn zum Duell. Dieser übertrug die Pflicht an den von ihm ausgesuchten Verlobten der jungen Dame, der am frühen Morgen des 28. August 1864 als erster feuerte und traf. Lassalle erlag seiner Verletzung drei Tage später im Alter von 39 Jahren. Trotz gelegentlichen Spotts würdigte auch Karl Marx dessen Wirken: „Nach fünfzehnjährigem Schlummer rief Lassalle – und dies bleibt sein unsterbliches Verdienst – die Arbeiterbewegung wieder wach in Deutschland.“
Der Alte Jüdische Friedhof ist heute ein Museum und insoweit zu den üblichen Öffnungszeiten gegen ein Entgelt zu besuchen. Seit 1941 fanden keine Bestattungen mehr statt, die Pforten wurden geschlossen und das Gelände fiel quasi der Vergessenheit anheim. Viele Gräber sind von Efeu überwachsen, Grabsteine umgestürzt, Namen unlesbar geworden. Aber sie sind erhalten und werden teilweise gepflegt, vor allem wenn es sich um Prominente handelt wie die Dichterin Friederike Kempner, den Historiker Heinrich Graetz oder die Eltern der von den Nazis ermordeten Edith Stein.
Ikonen der Moderne
Zurück in der Altstadt, findet der Besucher leicht zum Ring (Rynek), wie in böhmischer Tradition der Hauptplatz mit dem Rathaus noch heute genannt wird, auch wenn er rechteckig ist. „Auferstanden aus Ruinen“ kommt unweigerlich in den Sinn, wenn man an Fotos des Platzes von 1945 denkt. Um die in den letzten Kriegsmonaten zur „Festung“ erklärte Stadt war Straße für Straße, Haus für Haus gekämpft worden. Seien wir der polnischen Nachkriegsverwaltung dankbar dafür, dass sie nicht einfach mit der Planierraupe die vorgefundenen Steinhaufen beiseite geräumt hat.
Der harmonische Gesamteindruck, der beim Betrachten der schön restaurierten Bürgerhäuser entstehen mag, wird allerdings beim Anblick des Bankhauses an der Ecke zum Salzmarkt jäh gestört. 1929 errichtete Heinrich Rump den schnörkellosen Bau für die Sparkasse, heute Sitz der Santander-Bank. Die damalige Stadtverwaltung hat sich nicht nur in diesem Fall als offen für die Architektur der Moderne gezeigt. Radikaler in der Formensprache und auch heute noch atemberaubend wirkt das ehemalige Wertheim-Kaufhaus, heute das Einkaufszentrum Renoma (Bild). Das 1928-30 nach Plänen von Hermann Dernburg errichtete Warenhaus war das größte der Stadt und besaß die ersten Rolltreppen Schlesiens
Der bedeutendste Bau des frühen 20. Jahrhunderts ist allerdings die Jahrhunderthalle (Hala Stulecia), seit 2006 UNESCO-Welterbe der Menschheit. Die Kuppel mit ihren 65 Metern Durchmesser war damals das größte freitragende Bauwerk der Welt. Max Berg, der hochfliegende Pläne für eine Umwandlung Breslaus in eine Metropole hatte, von denen allerdings die wenigsten realisiert wurden, entwarf das gewaltige Bauwerk zur Hundertjahrfeier der Befreiungskriege.
Kontrastprogramm
Roswitha Schieb, die das wunderbare Buch Literarischer Reiseführer Breslau geschrieben hat, hatte K. die stillgelegten Bahnhöfe empfohlen. Zuerst wanderten wir nach Norden, durch eine völlig untouristische Vorstadt zum Dworzec Nadodrze, der zwar noch im Betrieb ist, dessen Gebäude aber verschlossen ist; Fahrkarten gibt es nur noch am Automaten. Wir setzten uns auf eine Bank und lasen ein Kapitel aus Günter Anders‘ Buch Besuch im Hades. Dort beschreibt er, wie sich im Jahr 1914 die Soldaten am Freiberger Bahnhof (Dworzec Swiebodzki) sammelten, um dann an die Front abtransportiert zu werden. Dieser war unser nächstes Ziel. Auf den stillgelegten Perrons und in der alten Bahnhofshalle befindet sich heute eine relaxte Bar, wo wir nach dem bei der Hitze anstrengenden Fußmarsch eine kleine Pause einlegten.
Dass auch das aktuelle Kriegsgeschehen allgegenwärtig ist, wurde uns auf Schritt und Tritt bewusst, nicht zuletzt, als wir die Menschenschlange sahen, die sich vor dem Ukrainischen Konsulat in der Nähe der Markthalle angesammelt hatte. An unserem ersten Abend in Breslau waren wir Zeugen einer Demonstration auf dem Rynek geworden. Es war der 9. August, der Jahrestag der Scheinwahl in Belarus von 2020, in der durch Manipulationen die Opposition um den Sieg gebracht worden war. Belarussische Emigranten erinnerten lautstark an dieses Ereignis.
Zum Schluss noch einer der unvermeidlichen Zwerge, in den späten 1980er Jahren Symbole des Widerstands, heute wohl die meistfotografierten Objekte der Stadt und in rasanter Vermehrung begriffen. Es gibt spezielle Stadtführungen und eine Zwergen-Website mit entsprechendem Stadtplan. Für eine Stadtrallye mit Kindern sehr geeignet!
Unsere Freundin K. hat alle Spaziergänge auf dem Portal Komoot dokumentiert. Wer also Genaueres wissen will, kann dort unter „fluechtig“ die einzelnen Routen samt Fotos aufrufen.
„Lass mich jetzt mahlen, und du ruh dich aus.“ Welch schöner Satz an den Partner. Ich frage mich, warum er in dieser mittelalterlichen Chronik niedergeschrieben wurde, gibt es einen größeren Zusammenhang? Leider konnte ich den nicht finden.
In der englischsprachigen Wikipedia findet man unter „Book of Henrykow“ zumindest den Kontext:“The circumstances under which this sentence was written closely reflected the cultural and literary conditions in Poland in the first centuries of its national existence. It appeared in a Latin chronicle, written by a German abbot. The man who reportedly uttered the sentence almost one hundred years earlier was Bogwal, a Czech (Bogwalus Boemus), a local settler, and subject of Bolesław the Tall, as he felt compassion for his local wife, who „very often stood grinding by the quern-stone.“ The local village, Brukalice, came to be named after him.The medieval recorder of this phrase, the Cistercian monk Peter of the Henryków monastery, noted „Hoc est in polonico“ („In Polish, this is“) before quoting it.“
Also zwei Interpretationen: Der Mönch war stolz darauf, einen Satz in einer ihm bis dahin unbekannten Sprache aufschreiben zu können oder er war total erstaunt, dass ein liebender Gatte so viel Mitgefühl gegenüber seiner schwer arbeitenden Frau aufbrachte. Oder beides.