Abschied von Turin

Den Geist, das Fluidum einer Stadt verspüren zu wollen, wenn man nur kurz dort weilt, ist müßig. Nach Turin waren wir gekommen mit der Erwartung, dass die Piemontesen anders seien als die Süditaliener, insbesondere die Neapolitaner: ruhiger, gemessener, vornehmer, distanzierter, selbstbewusster. Ein Klischee, gewiss, aber alle Klischees bündeln Erfahrungen. Klischees verfestigen positive wie negative Urteile zu einem Gesamtbild, das in Reiseführern die Erwartung der Stadtbesucher zunächst bestimmt.

Als wir in Turin waren, im Vorfrühling, hatten nicht übermäßig viele Besucher die Stadt aufgesucht

Monumente

Die Architektur des Zentrums konnte fast ungestört wirken: klar, ebenmäßig und aristokratisch, vornehm, aber nicht einschüchternd; für Touristen aus Berlin vielleicht unerwartet hygienisch, fast steril. Die königlich-savoyische Vergangenheit der piemontesischen Metropole offenbart sich in ihren Bauten, deren Erhabenheit durch die weitläufigen Plätze, auf die sie schauen, gemildert wird. Der Stadtkern ist eigentlich ein Flächendenkmal mit wirklich sehr vielen repräsentativen Monumenten –Zeugnisse monarchischen Herrschaftsanspruchs ebenso wie des politischen Umbruchs während des Risorgimento. Neben den Fürsten und Königen werden der Revolutionsheld Garibaldi sowie die politischen Führer, die die staatliche Einheit Italiens 1861 herbeiführten, gewürdigt. Steingewordener Geschichtsunterricht, eine Abkehr von der Gegenwart.

Monumente sind Erstarrungen, die sich im Augenblick eines interessierenden Gemüts punktuell lösen und dann wieder einfrieren. Weniger heroisch als die Repräsentanten hoch zu Roß präsentiert sich an einer Ecke der Piazza Carlo Alberto eine unscheinbare Gedenktafel. Unter einer Grünspanplakette kündet die Inschrift von jenem Augenblick, da der deutsche Denker Nietzsche von Mitleid ergriffen ein gestürztes, altersschwaches Pferd umarmt hat. Ein Erinnerungsort der Philosophiegeschichte. Dem Vorfall im Januar 1889, symptomatisch für Nietzsches endgültigen geistigen und körperlichen Verfall, hat Gottfried Benn das Gedicht „Turin“ gewidmet:

„Ich laufe auf zerrissenen Sohlen“,
schrieb dieses große Weltgenie
in seinem letzten Brief –, dann holen
sie ihn nach Jena −; Psychiatrie.

Ich kann mir keine Bücher kaufen,
ich sitze in den Librairien:
Notizen −, dann nach Aufschnitt laufen: −
das sind die Tage von Turin.

Indes Europas Edelfäule
an Pau, Bayreuth und Epsom sog,
umarmte er zwei Droschkengäule,
bis ihn sein Wirt nach Hause zog.

Bildschirmfoto von Culturificio auf Facebook.com 19.05.22

Nietzsche war 1888 im Frühjahr und dann seit dem Herbst desselben Jahres bis zu seinem Zusammenbruch im Januar 89 in Turin. In Briefen äußerte er sich enthusiastisch über die Stadt. Er rühmt die Stille der arkadengesäumten Straßen, die Nähe zu den Alpen und schreibt an Georg Brandes: „Ich bin so erleichtert, so gestärkt, so guter Laune …“. Noch am 16. Dezember 1888 teilt er einem anderen Freund mit: „Neulich sagte ich mir: einen Ort zu haben, wo man nicht heraus will, nicht einmal in die Landschaft, wo man sich freut, in den Straßen zu gehn! – früher hätte ich’s für unmöglich gehalten”. Und er rühmt die „herrlichen hochräumigen Portici, Säulen- und Hallengänge[“ Turins und staunt, „daß man mitten in der Stadt die Schnee-Alpen sieht! Daß die Straßen schnurgerade in sie hineinzulaufen scheinen! Die Luft trocken, sublim-klar. Ich glaubte nie, daß eine Stadt durch Licht so schön werden könnte.“
Der Maler und Schöpfer der pittura metafisica Giorgio de Chirico, geboren 1888 (!), war ein begeisterter Leser Nietzsches und er hat sich vom Philosophen und auch Turin inspirieren lassen. Die „metaphysische Malerei“ de Chiricos zeigt sich fasziniert von menschenleeren Plätzen, einsamen, beziehungslos herumstehenden Statuen, oft Torsi; alles könnte auch eine Kulisse für etwas nicht sichtbar Anwesendes sein. Der Kollege Ardengo Soffici bezeichnete diese Bilder als „Traumschriften“. De Chiricos Werk Torino a Primavera (1914) mag als Beispiel dienen. Dass Turin den Touristen zu befremden vermag: heute vielleicht sein größter Vorzug.

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