Sich in Turin zu orientieren ist leicht. Vom Bahnhof Porta Nuova aus führt die Via Roma schnurgerade ins historische Zentrum. Man überquert die Piazza San Carlo und gelangt in wenigen Minuten zur Piazza Castello mit dem Palazzo Reale, dem Königspalast. Von dort führt die Via Garibaldi im rechten Winkel nach Westen, die Via Po etwas abgewinkelt nach Osten, zum Fluss. Kilometerlange Arkaden (Portici) schützen den Spaziergänger vor Regen und Hitze, vielfältige Geschäfte laden zur Betrachtung der Auslagen und zum Shopping ein, historische Cafés mit prächtigen Interieurs bieten sich für eine Verschnaufpause an. Und wenn es dann noch Frühling ist, kommen beim Flanieren schnell einige Kilometer zusammen, wie ein Blick auf den Schrittzähler am Abend zeigt.
An der Piazza Castello befindet sich, etwas versteckt, das Kaffeehaus Baratti & Milano, 1858 gegründet, seinerzeit Hoflieferant des savoyischen Königshauses. Wie die anderen namhaftenTuriner Cafés schmückt es sich mit großen Namen: Camillo Benso von Cavour z.B., erster Ministerpräsident des geeinten italienischen Königreichs, das 1861 ausgerufen wurde, kehrte hier schon ein. Bedient wird man wie in einem Gourmetrestaurant. Eine Dame empfängt, kontrolliert den Impfpass und empfiehlt einen Tisch, eine zweite nimmt die Bestellung auf, ein junger Mann bringt Kaffee und Gebäck, bezahlt wird beim Kassierer. Die feinen Schokoladen des Hauses kann man übrigens auch bei uns kaufen. Wir haben uns einige Tafeln mitgebracht.
Covid-bedingt verlässt man das Café nicht durch dieselbe Tür, durch die man eintrat, und befindet sich plötzlich in der Galleria dell’Industria Subalpina. Die Einkaufspassage aus Glas und Eisen wurde 1873 erbaut und hat drei Etagen. Unten befindet sich das schöne altmodische Kino Roma, das zu dieser nachmittäglichen Stunde von lauter älteren Herrschaften aufgesucht wird. Man bringt gerade den Film „Belfast“. Außerdem finden sich ein Antiquariat, ein Kunsthändler und ein Designgeschäft. Weder internationale Ketten noch Flagshipstores also, die sich eher in der Via Roma angesiedelt haben.
Geht man jetzt nach rechts, steht man auf der Piazza Carlo Alberto mit dem Reiterstandbild desselben, von 1831 bis 1849 König von Sardinien, Piemont und Savoyen. Der Platz wird vom Palazzo Carignano dominiert, wo 1865 das erste italienische Parlament tagte; heute ist es Museum des Risorgimento. Der Begriff, wörtlich mit „Wiederauferstehung“ zu übersetzen, bezeichnet die politische Bewegung, die zur Einheit Italiens führte. Wie schon deutlich geworden sein dürfte, ist Turin außer durch die barocke Prachtentfaltung des savoyischen Königshauses stark durch die Einigungsbewegung geprägt. Vier Jahre lang war es die Hauptstadt des neuen Staates, musste den Regierungssitz aber 1865 an Florenz abgeben, bis 1871 Rom übernahm.
Am Ägyptischen Museum vorbei, einer der Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt, gelangt man wieder zur Piazza San Carlo, einem geräumigen Platz mit einem weiteren Reiterstandbild, das diesmal aber nicht namensgebend war, denn San Carlo ist eine der beiden Zwillingskirchen, die am südlichen Ende den Platz abschließen. Hier haben die großen Designer ihre Läden: Armani, Prada, Max Mara, Louis Vuitton und andere. Auf dem Weg zum Königspalast glänzt eine weitere Passage: die Galleria San Federico.
1932-33 erbaut, sollte sie Raum für Geschäfte, Büros und ein Kino bieten. Die Tageszeitung La Stampa hatte hier ihre Redaktionsräume und der Fußballclub Juventus von 1965 bis 1985 seine Verwaltung. Heute gibt es einen Feinkosthandel mit Imbiss, das schön restaurierte Kino Lux, einen Juwelier und Modegeschäfte. Auch Filmszenen wurden hier schon gedreht, z.B. 1975 für Tiefrot (Profondo Rosso) von Dario Argento.
Es wird Zeit, zum Hotel zurückzugehen, das sich in Bahnhofsnähe befindet, denn wir sind natürlich wieder mit dem Zug angereist, mit einem Zwischenstopp in Basel, dann mit der SBB durch den St. Gotthard-Tunnel (57 km) über Bellinzona, Lugano, Como nach Mailand und mit Umstieg nach Turin.
Da das Abendessen in Italien traditionell kaum vor 20 Uhr eingenommen wird, muss das flaue Gefühl im Magen mit einer Übergangslösung besänftigt werden. Nach dem alten Grundsatz „When in Rome, do as the Romans do“, wollen wir einen Aperitiv einnehmen und erwarten ein paar Erdnüsse oder Chips dazu. Doch im Café Platti geht es etwas anders zu:
Laut Speisekarte verkehrte hier seit 1870 die Oberschicht. Die Firmengründer von Fiat und Lavazza zum Beispiel, Luigi Einaudi, zweiter Präsident der Republik Italien, der Schriftsteller Cesare Pavese, der Verleger Giulio Einaudi. Tempi passati! Wir sahen ganz normale Leute, Frauen, die sich vom Einkaufsbummel ausruhten, Paare, junge Mädchen, die sich mit ihren Handys beschäftigten. Der wortkarge Kellner schien jedoch ein Original zu sein. Vielleicht hätte man ihn fragen sollen.