Ein Abstecher nach Vienne

 

Bequem mit dem Regionalzug erreicht der Reisende, der für ein paar Stunden die Metropole Lyon Richtung Süden verlässt, Wien im Delfinat, wie der Ort Vienne einst auf Deutsch hieß. Eine Kleinstadt zu beiden Seiten des Rhône mit rund 30 000 Bewohnern. Joseph Roth ist hier gewesen und hat ein Feuilleton über seinen Aufenthalt verfasst. Noch immer lässt sich sein Urteil, die Stadt Vienne sei „mitten in ihrer Schönheit gestorben“, nachvollziehen. Ein wichtiges Zentrum des römischen Galliens, war es später Sitz der Fürsten und Könige, gehörte mehreren Nationen an. Der Burgunderkönig Konrad III. machte Vienne 931 zur Hauptstadt seines Reiches, hundert Jahre später fiel es an das Heilige Römische Reich. Auf dem Konzil von Vienne 1312 wurde hier die Zerschlagung des Templerordens beschlossen, aber auch die Einführung des Feiertags Fronleichnam. Schließlich vollzieht der Erzbischof Jean de Poitiers 1451 den Anschluss an das französische Königreich und spätestens nach der Französischen Revolution hat der Ort seine politische Bedeutung eingebüßt.

Römisches Erbe

Da Vienne nahe der Autobahn von Lyon – Marseille liegt, ist es ein beliebtes Ziel von Touristen, die auf dem Weg in die Provence eine Pause einlegen. Vermutlich weniger elegisch gestimmt als Joseph Roth werden sie die Highlights würdigen: den Tempel des Augustus und der Livia, das römische Theater, das Kybele-Heiligtum. Die Tempelanlage, ein Podiumstempel mit einer offenen Säulenhalle,  ist eine der besterhaltenen des römischen Imperiums. Der Grund: im Mittelalter wurde der Tempel in eine Kirche umfunktioniert. Während der Französischen Revolution wurde er der „Göttin der Vernunft“ geweiht und danach noch als Gericht, Museum und Bibliothek genutzt. Eine gründliche Restaurierung fand unter der Leitung von Prosper Mérimée statt. Gegenwärtig ist das Gelände um den Tempel weiträumig mit Rasen belegt. Es wird bereichert durch die moderne Skulptur eines Stahlstiers, vor dessen Besteigen eine Verbotstafel warnt.

Südöstlich des Tempels befindet sich der Parc Archéologique mit weiteren Überresten des einstigen Forums. Hier wurden die Fundamente eines Kybele-Heiligtums mit zugehörigen Priesterwohnungen und einem kleinen Kulttheater freigelegt;  es bot 13 000 Zuschauern Platz. Der Kult der Kybele stammt aus Phrygien, wo sie ursprünglich als Naturgöttin verehrt wurde und. Mutmaßlich zur Zeit des Augustus erbaut, wurde der Tempel  bereits während der Völkerwanderung im 3. Jahrhundert stark beschädigt und im Mittelalter als Steinbruch genutzt.

Joseph Roth

Dreizehn Tage, wohl 1925,  hat Joseph Roth in Vienne zugebracht. Seine Schilderung ist melancholisch getönt, er bewundert die Zeugen der Antike, das gegenwärtige Leben in Vienne aber scheint stillzustehen, die Menschen wirken wie Denkmäler, „den ganzen Tag saßen die Frauen am Fenster, und unbeweglich wie sie hockten neben ihnen die Katzen“. Dass es einen Bahnhof gibt, findet er merkwürdig, denn: „Hier lebten ja die Toten!“. Die gotische Kathedrale Saint-Maurice (begonnen im 12., vollendet im 16. Jahrhundert), „unberührt vom Lauf der Zeiten“, bewundert er. Deren Fassade ist mannigfaltig dekoriert, von drei Portalen und einem überwältigenden spätgotischen Fenster dominiert. Die dreischiffige Kirche hat einen etwa 90 Meter langen Innenraum.

Als Joseph Roth Vienne verlassen hatte, um weiter nach Süden zu fahren, bemerkte er rückblickend:  „Hatten mich wirklich die Einwohner von Vienne bemerkt? Oder war ich durch diese Stadt hindurchgeweht worden wie ein Windhauch, den alte Menschen kaum fühlen und Tote überhaupt nicht?“ Wenn der heutige Reisende die Stadt mit dem Zug verlässt, erblickt er vom Bahnsteig eine Fassadenmalerei, die französische Truppen beim Transport an eine Front des Ersten Weltkriegs zeigt.Links davon findet sich die Liste der Gefallenen: Es sind 763 Namen von jungen Männern.

 

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