Das fängt ja gut an! Unsere Reise nach Sizilien beginnt mit den heutzutage üblichen Problemen bei der Deutschen Bahn: Verspätungsalarm, Umbuchung, Zugausfall, Fehlinformationen. „Mit dem Zug nach Sizilien?“ Der Vielflieger wundert sich oder bekommt gleich ein schlechtes Gewissen, denn seit Greta zu einer Medien-Ikone geworden ist, macht sich nicht nur in Schweden ein Phänomen namens Flygskam (Flugscham) bemerkbar. Für das langsame Reisen sprechen indes noch andere Aspekte: Begegnungen, der Wechsel der Landschaften, die Zeit für Lektüre, die allmähliche Annäherung an das Fremde.
Unterwegs nach Süden
Schon im ICE nach München ist uns ein junger Mann mit Hund aufgefallen; nun sitzen beide auf der Weiterfahrt nach Bologna in unserem Abteil. Vincenzo ist aus Bari, der Mischlingsrüde ist ihm dort zugelaufen, wurde Darwin genannt und hat ihn bei der Jobsuche nach Berlin begleitet.
Im Mezzogiorno ist jeder zweite Jugendliche zwischen 15 und 24 arbeitslos. Den teilweise gut ausgebildeten jungen Menschen bleiben nur Jobs als lavoretti, als Helfer im Supermarkt oder bei der Olivenernte. Manche wagen wie Vincenzo den Sprung ins Ausland und beklagen Misswirtschaft und Korruption in ihrer Heimat. Er hat schon recht gut deutsch gelernt, aber die sprachlichen Hürden sind hoch; einen Job, von dem er leben kann, hat er nicht gefunden. In Verona verabschieden wir uns; am nächsten Morgen hat er von dort aus eine Mitfahrgelegenheit.
Wir hingegen besteigen nach einer Übernachtung in Bologna den burgunderroten Italo, einen Hochgeschwindigkeitszug, der uns in dreieinhalb Stunden nach Neapel bringt. Italo ist ein privates Unternehmen, das die staatliche Trenitalia im Preis-Leistungs-Verhältnis übertrifft, auf Pünktlichkeit und Kundenzufriedenheit setzt. Dazu kommt eine einwandfreie Öko-Bilanz: die Züge fahren leise und verbrauchen 10% weniger Energie als die Konkurrenz.
Unterwegs bleibt Zeit genug, in Goethes Italienischer Reise die Schilderung seiner Überfahrt von Neapel nach Palermo zu lesen, für die er wegen ungünstiger Windverhältnisse vier Tage brauchte. Unsere Fähre schafft das in 12 Stunden, die wir aber bei ruhiger See recht komfortabel verbringen. Beim Abendessen sitzen wir in der Caffeteria neben sizilianischen Lastwagenfahrern, die diese Passage mehrmals pro Woche machen. Sie kennen das Personal, duzen sich mit jedem und spielen am leer geräumten Tisch Karten. Unsere enge, aber funktionale 2-Bett-Kabine ermöglicht einen ungestörten Schlaf, so dass wir erfrischt aufwachen, als der Hafen von Palermo angesteuert wird.
Spaziergang durch die Geschichte
Wer als Individualtourist reist, macht sich Arbeit: Er erwirbt einen Sprachführer mit überlebenswichtigen Vokabeln und Sätzen wie „C‘ è un‘ emergenza!“, sucht Quartiere, überlegt sich ein Besichtigungsprogramm. Der bekannte Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, meint allerdings: „Gehen Sie in Palermo spazieren. Ohne Programm.“ Wir sind seinem Rat gefolgt, konnten aber einige Sehenswürdigkeiten nicht vermeiden.
Heute hat das im 5. Jh. v. Chr. von den Phöniziern gegründete Palermo über 700 000 Einwohner. Nachdem die Araber die Stadt 831 zur Kapitale ihres sizilischen Reichs gemacht hatten, erlebte sie ihre erste Blüte im Frühmittelalter. Der arabische Weltreisende Ibn Hauqual rühmte die zahlreichen Moscheen, Paläste, Basare sowie die Obstgärten und Parks der Umgebung. Man schätzt, dass damals schon 300 000 Menschen hier lebten. Auf die Araber folgen die Normannen, und es entstehen die großen Denkmäler des arabisch-normannischen Stils. Der Dom , der innerhalb eines Jahres auf dem weitläufigen Gelände der Großen Moschee gebaut wurde und bereits eine Vorgängerkirche ablöste, zeigt in der Außenansicht die verschiedenen Bauperioden. Im Innenraum, der im klassizistisch beeinflussten Spätbarock gestaltet ist, zieht es viele Besucher zu den Kaisergräbern. In einer Seitenkapelle befinden sich die Porphyrsarkophage von Heinrich VI. und von Friedrich II. von Hohenstaufen. Federico Secondo di Svevia war eine der größten Herrschergestalten des Mittelalters und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Hinter den Staufern finden sich zwei Sarkophage mit den sterblichen Überresten des Normannenherrschers Roger II. und seiner Tochter Konstanze, der Frau von Heinrich VI. und Mutter Friedrichs II.
Von der normannisch-staufischen Grablege in der Kathedrale spazieren wir durch einen kleinen Park mit üppiger mediterraner Vegetation zum Palazzo Reale, dem Normannenpalast, der an der Stelle von al-Qasr, der Sommerresidenz des Emirs von Palermo steht. Roger II. baute diese zu seinem Stadtpalast um. Selbst das Wenige davon, das heute noch erhalten ist, lässt Prunk, Luxus und Schönheit seiner Vergangenheit erahnen. Ein Gemach, die Stanza di Ruggeri, wurde um 1160 mit herrlichen Mosaiken, die Zentaurenkämpfe und lebendige Jagdszenen abbilden, bestückt. Die zwei Jahrzehnte früher entstandene Capella Palatina begeisterte schon Guy de Maupassant: „Es ist das Schönste, was sich der menschliche Geist je erträumt und in die Wirklichkeit umgesetzt hat, das Juwel aller Kirchen.“ Der Audio-Guide vermeldet, in dem außerordentlichen Kunstwerk seien die drei großen Kulturen verschmolzen , die das Reich des Normannen Roger II. bestimmten: der byzantinisch-christliche Osten, der lateinisch-christliche Westen und der Islam. Auch der Uneingeweihte, der den Verästelungen des religiösen Bildprogramms kaum wird folgen können, dürfte doch von der Magie der meisterlichen Mosaiken, in deren Mitte Christus als Pantokrator (All- oder Weltenherrscher) thront, überwältigt sein. Es ist ein Vorgeschmack auf Monreale, den prächtigen Dom, der im Goldglanz der Mosaike biblische und weltliche Geschichte erzählt.
Aufbruchsstimmung
Der Rückweg ins Stadtzentrum führt durch die belebten Marktgassen des Capo-Viertels. Mächtige rotglänzende Thunfische und silbrige Sardinen, Berge von Artischocken, heimische Blutorangen und die ersten Erdbeeren werden angeboten. Gewöhnungsbedürftig ist der Anblick von Schweineköpfen und großen Batzen Rinderleber, zu denen keine Vitrine Distanz herstellt. Einige Stände mit Street-Food gibt es auch. Die Polpette (Fleischklößchen) haben wir probiert, Pani ca meusa (Brötchen mit gekochter Milz) haben wir mit Ehrfurcht betrachtet.
Wenn der Abend naht, schlägt die Stunde des Aperitifs. Wir rasten mit dem ortsüblichen Aperol Sprizz vor dem Teatro Massimo, dem gewaltigen Opernhaus der Stadt. Es war 20 Jahre lang wegen baulicher Mängel geschlossen, ein Ergebnis korrupter, mafiöser Politik. Dank Bürgermeister Orlando konnte 1997 zum 100jährigen Bestehen die Wiedereröffnung mit Verdis Nabucco gefeiert werden. Somit symbolisiert das stolze Bauwerk heute Palermos Erneuerung und seine Erfolge im Kampf gegen die Mafia.
Dem Thema kann man in der Stadt nicht entgehen. Es wird vielerorts an die „Mafiajäger“ Borsellino und Falcone erinnert, die etwa 400 Mafiosi vor Gericht gebracht hatten und beide im Jahr 1992 ermordet wurden. Heute sind Straßen und Plätze in ganz Sizilien und der Flughafen Palermos nach ihnen benannt. Doch wir kommen an einer Schule vorbei, an der ein Banner mit dem Konterfei der beiden Juristen Schlitzspuren aufweist …
Ein rühriger Mann
Leoluca Orlando ist mit Unterbrechungen seit 1985 im Amt. In zähem Ringen ist ihm gelungen, den Einfluss des organisierten Verbrechens einzudämmen. So sind, nachdem der italienische Staat Gesetze erlassen hat, die es ermöglichen, den Besitz verurteilter Mafiosi zu beschlagnahmen, deren Ländereien gemeinnützigen Unternehmen zur Verfügung gestellt worden.
Ein Laden auf dem vielbesuchten Corso Vittorio Emmanuele gehört wie auch einige Restaurants und eine Reiseorganisation zur Bewegung „Addiopizzo“ (Tschüss Schutzgeld); hier verkauft man Bio-Produkte einer solchen Kooperative auf ehemaligem Mafia-Besitz: Tomatensugo im Glas, Olivenöl, Orangenmarmelade. Auch T-Shirts mit dem Logo der Bewegung werden feilgeboten. Bis auf verbale Attacken scheint man die jungen Idealisten gewähren zu lassen; allerdings haben sich die Geschäftsfelder der Mafia auch zum Drogen- und Menschenhandel verlagert.
Orlando kämpft auch für die „Internationale Freizügigkeit von Menschen“. So ist eine von ihm verfasste „Charta von Palermo“ überschrieben, die im März 2015 von der Stadtregierung gedruckt wurde, als der Ansturm von Flüchtlingen auf Europa gerade anwuchs. Im Text werden das Recht auf Asyl, politische Teilhabe und kulturellen Austausch als neues Staatsbürgerrecht gewürdigt.
Die politische Diskussion in der Stadt bildet sich auch in der lebendigen Straßenkunst ab. Es finden sich großflächig bemalte Brandmauern unterschiedlicher Stile, Graffiti mit Appellcharakter sowie literarische Zitate mit aktuellem Hintersinn. Ein Beispiel: „Macht es nicht wie die, benutzt euer Gehirn“. Im Bild Hunde, die offensichtlich aus den Näpfen rechtsextremistischer Organisationen und populistischer Parteien fressen.
Der Triumph des Todes
Ein neuer Tag, neue Eindrücke. Wir suchen zunächst die unterirdischen Gänge des Convento dei Cappuccini (Kapuzinerkloster)auf. Die riesige Gruft birgt seit dem 16. Jahrhundert die Überreste von etwa 8000 Verstorbenen. In der Barockzeit wurden hier die Leichen einbalsamiert, um sie vor der Verwesung zu bewahren und die Lebenden an ihre Vergänglichkeit zu erinnern. Heute stehen Gerippe in unterschiedlichem Verfallszustand an Wänden aufgereiht oder liegen in Särgen. 1881 wurden die Katakomben als Friedhof geschlossen. Mittlerweile ziehen sie als Touristenattraktion jährlich Abertausende von Besuchern an. Dass der Tod in Palermo allgegenwärtig ist, zeigt sich auch in der sizilianischen Regionalgalerie im Palazzo Abatellis, wo ein großartiges Fresko aus dem 15. Jahrhundert den Trionfo della Morte darstellt. Im Film „Palermo Shooting“ von Wim Wenders besucht der Held auf Sinnsuche beide Stätten.
Mit Goethe unterwegs
„Heute den ganzen Tag beschäftigte uns der Unsinn des Prinzen Pallagonia“ beginnt Goethe sein Kapitel über eine Fahrt nach Bargheria. Dessen Villa ist ihm ein missgestaltetes, abgeschmacktes Gebilde, ganz ohne Sinn und Verstand entworfen. Den Prinzen hält er für verrückt. „Dachreihen mit Hydern und kleinen Büsten, mit musizierenden Affenchören und ähnlichem Wahnsinn verbrämt. Drachen, mit Göttern abwechselnd, ein Atlas, der statt der Himmelskugel ein Weinfass trägt“, so zetert Goethe seitenlang. Durch Winckelmann geschult, galt ihm dessen ästhetische Idealisierung der Antike („Edle Einfalt, stille Größe“) als Norm, und es schüttelte ihn beim Anblick der grotesken Figuren, die die „Villa der Monster“ in der Folgezeit international bekannt machten. Der verwunschene Palast hat die Zeiten ganz ohne Renovierung überdauert, die Monster sind im Lauf der Jahrhunderte und der Industrialisierung nachgedunkelt, wirken dadurch finsterer, aber auch seltsam alterslos.
Wer glaubt, der Besuch des Botanischen Gartens habe nach solchen Aufregungen beruhigend auf Goethe gewirkt, täuscht sich allerdings. Denn hier, elektrisiert von der exotischen Pflanzenfülle, entwirft er sein Konzept der „Urpflanze“ und sucht und sucht: „Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?“ 30 Jahre später macht er sich allerdings darüber lustig, dass er ein abstraktes Konzept als reale Pflanze vorzufinden hoffte.
Auch ohne den Leitstern Goethe lohnt sich ein Besuch in der etwas verwilderten Anlage, die einigen exotischen Gewächsen eine neue Heimat geworden ist. Der Falsche Kapokbaum (Ceiba pentandra) zum Beispiel stammt aus Westafrika, hat in der Art der Sukkulenten knollig verdickte Stämme mit pockiger Rinde und verpackt seine Samen in einer watteartigen Schutzhülle. Die Birkenfeige (Ficus benjaminus) kennen wir zwar als Zimmerpflanze, aber nicht in monumentaler Form mit zahlreichen Luftwurzeln.Ein 150jähriges Exemplar steht übrigens im Garibaldi-Garten, mitten in der Stadt. Dazu kommt eine Fülle von Zitrusgewächsen, deren Blüten einen betörenden Duft verströmen.
„Villa der Monster“ – grandiose Idee! Kann man sie besichtigen? Wer war Prinz Pallagonia? Hat er sich vielleicht durch Monster und Dämonen an kirchlichen Bauten inspirieren lassen oder steckt ein Stück Zeitgeschichte dahinter?
Interessanterweise war der Architekt der Villa, Tommaso Napoli, ein Dominikanerpater. aber erst der Enkel des adligen Auftraggebers ließ die Monstren auf der Umfassungsmauer anbringen.Und nicht nur das. Im Inneren sah es so aus: verschiedenfarbige Fensterscheiben, schiefe Fußböden, Zerrspiegel, Fangstühle, Kombination wertvoller und wertloser Materialien, Stückwerk aus Nachttöpfen und eine blasphemische Dekoration der Hofkapelle. Ob der Fürst geistesgestört war, wie nicht nur Goethe meinte, oder ein origineller Kopf,kann man heute nicht mehr wissen. Jedenfalls sind auch die Surrealisten hingepilgert und Visconti hat hier einen Film gedreht. Man kann (ohne Aufsicht) einige Räume der Villa besichtigen, sie sind wunderbar gealtert, aber natürlich ohne Inneneinrichtung.